: berliner szenen Flexible Kulturmenschen
Ölfass statt Rattle
Donnerstagabend. Wir sitzen in der Kaffeebar an der Eberswalder Straße, da, wo früher Humana drin war. Eigentlich ist 19 Uhr viel zu spät, um Milchkaffee zu trinken. „Wer will hier schlafen?“ Johannes schaut mich vorwurfsvoll an. „Ich wollte mit dir in die Philharmonie gehen. Sir Simon Rattle dirigiert heute die Johannespassion.“ Mein Freund Johannes ist Kulturmensch. Er hat eine Classic-Card. Ich druckse herum: „Ach, das ist so weit und überhaupt.“ Missbilligend zieht er die Brauen zusammen und die Mundwinkel nach unten. Ich flüchte aus: „Wenn Kaizers Orchestra heute im Kesselhaus spielten, da würde ich mitkommen. Aber Philharmonie …“ Ein Strahlen huscht über das Gesicht des Freundes: „Kaizers Orchestra spielen heute im Kesselhaus“, sagt er triumphierend. Ich kannte die sechs Norweger noch nicht mal richtig. Ich wusste nicht, dass sie mit Kontrabass und Harmonium spielen, auf Ölfässer eindreschen und eine bis zum letzten Spotlight perfekt durchchoreografierte Bühnenshow hinlegen. Der wollbemützte Security Mann guckt genervt, als Sänger Jan Ove sich ins Publikum wirft und auf den Händen der Fans eine Runde schwimmt. Auf meinen auch. „Und was machen wir morgen?“, frage ich meinen Freund, als wir bis auf die Unterwäsche durchgeschwitzt zur U-Bahn laufen. Er grinst: „Johannespassion?“ „Mal sehen“, sage ich. LEA STREISAND