: Armes Bremen
Darüber spricht man nicht: Die Armutszahlen der Sozialstatistik sind niederschmetternd, gerade in Bremen. Die Sozialhilfe-Dichte in Bremen ist um ein Viertel höher als in Dortmund
Bremen taz ■ In der von Werbung geprägten Oberfläche der Gesellschaft zählen nur Optimismus, Reichtum und Schönheit. Armut? Dahin guckt man nicht. Gegen den Trend befasst sich die Arbeitnehmerkammer Bremen regelmäßig mit dem Stand der Armut in Bremen. Kammer-Mitarbeiter Klaus Jakubowski hat jüngst vor dem „Arbeitskreis kritische Sozialarbeit“, einem von dem Kasseler Wissenschaftler Frank Bettinger gegründeten Zusammenschluss, über die Lage in Bremen referiert. Seine provozierende Botschaft: „In Bremen leben rund 330.000 Menschen unter oder in der Nähe der Armutsgrenze.“
Da ist natürlich die Frage, wie „Armutsgrenze“ definiert wird. Jakubowski nimmt eine ganz offizielle Definition, die von der EU kommt und auch in anderen europäischen Staaten benutzt wird: Wer weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens zu Verfügung hat, gilt laut EU als „arm“. Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Betroffenen sich als besonders „arm“ empfinden – die meisten Studierenden fallen zum Beispiel unter diese Armutsgrenze, die ihre Lage als vorübergehende Geldknappheit verstehen.
Aber immerhin, das sagt die im Dezember 2005 vorgelegte Arbeitslosenstatistik, sind 48.538 Menschen in Bremen arbeitslos, das sind 15 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Rund 40 Prozent davon sind Langzeitarbeitslose. Wenn man die vorzeitig in Rente geschickten älteren Arbeitnehmer und die Zwangs-Mini-Jobber zu den Arbeitssuchenden hinzurechnet, sagt Jakubowski, kommt man auf eine Zahl bei 100.000 – „die bremische Dimension der Unterbeschäftigung“.
Sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren dagegen im Land Bremen Mitte 2005 genau 269.709 Menschen, die Zahl ist in den letzten fünf Jahren um 13.867 gesunken. Wobei nicht die Zahl der Pendler gesunken ist – in der Stadt Bremen wohnen nur noch 188.679 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Die Zahl der Mini-Jobber ist auf 66.606 angestiegen. Für 45.000 ist ihr Mini-Job die einzige Erwerbsquelle.
Insgesamt 96.000 Menschen bekommen Arbeitslosengeld II und Sozialgeld, 26.000 davon sind jünger als 15 Jahre. Das bedeutet: Mindestens 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen wachsen unter Armutsbedingungen auf. Im Bundesdurchschnitt sind das nur 14 Prozent, in Bremerhaven – der Kommune mit der höchsten Sozialhilfe-Dichte – sind es sogar 40 Prozent. Die Wachstums-Euphorie kommt bei denen, die in Armut leben, nicht wirklich an: „Bremen koppelt sich zunehmend vom Bund ab“, formuliert Jakubowski. Im Land Bremen gibt es pro 1.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 365 ALG-II-Empfänger, in Bremerhaven 538 – im Schnitt der alten Bundesländer nur 154. Im Vergleich der Großstädte bestätigt sich dieses Ergebnis: Auf 1.000 Einwohner haben in Bremen 87 Ansprüche auf Hilfe zum Lebensunterhalt, in Dortmund sind es nur 62, in München 37.
Zwei Punkte finden dem Bericht des Arbeitnehmerkammer-Vertreters besondere Erwähnung: Nach wie vor „vererbt“ sich Armut. 98 Prozent der Jugendlichen, die keinen Schulabschluss schaffen, kommen aus familiären Zusammenhängen, die von Sozialhilfe leben. Und zweitens sind die Chancen, aus dem Teufelskreis auszusteigen, schlecht. Armut ist für viele „ein bruchloser Prozess ohne sichtbare Veränderungsperspektive“, formuliert Jakubowski.
Klaus Wolschner