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Archiv-Artikel

Ein Loch im Kosmos

Wenn einen erwiesenen Tyrannen der Tod noch vor dem Urteil ereilt, dann erleben das nicht nur seine Opfer als Kränkung – vor einem irdischen Gericht wird sich seine Schuld nicht mehr erweisen

von CHRISTIAN SCHNEIDER

Nun ist er also tot – und niemand hat ihn selig. Slobodan Milošević hat sich so von der Weltbühne verabschiedet, auf der er eine Zeit lang mit Erfolg eine ihrer Hauptrollen, die des Schurken, gespielt hat.

Sein Abgang ist von der Zwiespältigkeit gezeichnet, die das Leben dieses Mannes begeleitet hat. Noch mit seinem Tod polarisiert er. Auf der einen Seite ist es so, dass – wie könnte es auch anders sein – Zweifel an der Todesart aufkommen. Die einen werden eifrig an einer Mordlegende stricken, die anderen sich – wenn die Obduktion Selbstmord ausschließen kann – mit der Zwiespältigkeit eines Todes während der Haft auseinander setzen müssen.

Im Schatten des Zweifels

Was ist ein „natürlicher Tod“ unter solchen Bedingungen? So oder so bleibt ein Schatten der Ungewissheit, ein Klima des Verdachts.

Weit problematischer aber ist die andere Seite: Wie ergeht es jenen, die Opfer des Milošević-Regimes waren – und immer noch sind? Auf dem Präsens ist zu bestehen, denn der Opferstatus lässt sich nicht ablegen wie ein Kleid. All diejenigen, die verjagt, gequält, verhaftet und interniert, erniedrigt und gefoltert wurden; die den Tod, die physische Verstümmelung oder die lebenslange psychische Verwüstung nächster Angehöriger zu beklagen haben – wie wird es ihnen gehen mit diesem „stillen Tod“ des Diktators?

Kein Therapeutikum

Man muss gar nicht die Erkenntnisse der Psychotraumatologie bemühen, es reicht völlig der so viel gescholtene Commonsense, um zu wissen, wie wichtig es für die Opfer ist, denjenigen abgeurteilt und bestraft zu sehen, der ihr Leben vernichtet hat. Nein, es geht dabei nicht um „Genugtuung“ in der problematisch mehrdeutigen Dimension des Worts. Es geht um ein anderes problematisches Wort, nämlich Gerechtigkeit: um eine Gerechtigkeit, die für diejenigen, die unter einem wie Milošević und seinen Schergen gelitten haben, den Status eines Therapeutikums hat. Solange Verbrechen wie diejenigen, die Milošević zu verantworten hat, nicht bestraft sind, bleiben die Wunden offen, die er geschlagen hat.

Es bleibt der Stachel

Nichts ist verheerender für die Psyche von Gewaltopfern als die ausbleibende Ahndung des Täters. Es ist wie ein zweiter Schlag ins Gesicht derer, die ohnehin Gründe haben, an der Gerechtigkeit der Welt zu zweifeln. Auch wenn Milošević nicht in der Seelenruhe und Bequemlichkeit des eigenen Betts gestorben ist, es bleibt der Stachel, dass er sich dem Prozess, dem Urteil, der öffentlichen Proklamation seiner Schuld entzogen hat. Denn angesichts der Beweislage kann – in diesem Fall sind ausnahmsweise alle „In dubio pro reo“-Argumente und „Man möge nicht in schwebende Verfahren eingreifen“-Reden suspendiert – am Ausgang des Verfahrens niemand zweifeln.

Es bleibt, nicht nur bei den Opfern, sondern bei allen, die das politische Geschehen und diesen Prozess verfolgt haben, der für die europäische Rechtskultur von exemplarischer Bedeutung ist, ein schales Gefühl zurück: das Gefühl, betrogen worden zu sein. Wieder einmal ist etwas nicht zu Ende gebracht worden, was dringend eines Abschlusses bedurft hätte.

Irdische Gerechtigkeit

Wieder einmal bleibt ein Loch im Kosmos der symbolischen Bedeutungen und Werte, die für unsere Lebensführung so maßgebend sind. Es lebt sich eindeutig schlechter, wenn die ohnehin beschädigte Vorstellung einer irdischen Gerechtigkeit noch einmal durch „himmlischen Beistand“ liquidiert wird.

Der Tod als Helfer. Wir kennen das im Kontext von untergegangenen Unrechtsregimen in vielfältiger Gestalt.

Hitler, der sich der Verantwortung durch Selbstmord entzog. Franco, der glückliche Diktator, der tatsächlich ruhig im Bett starb und, wie Wolf Biermann dichtete, abging, ohne „die Hauptlektion“ erhalten zu haben. Pinochet, der seinen bevorstehenden Tod als Argument gegen einen Prozess benutzt.

Und schließlich, dem Fall Milošević am ähnlichsten, der unsägliche Reichsverweser Hermann Göring, der die Ironie aufbrachte, seinem Prozess beizuwohnen, nur um sich dem Todesurteil durch Suizid per Zyankalikapsel zu entziehen.

Nun also Milošević.

Ihm scheint mit seinem Tod die Flucht vor der Gerechtigkeit gelungen. Schade. Denn gleichgültig, was denn nun in der Obduktion als endgültige Todesursache ermittelt werden wird: Jeder Aufrechte hätte ihm ein langes Leben gewünscht.