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Archiv-Artikel

Musst du heute was erleben

Wieder ein Physiker, der lieber anderes macht als Physik. Der Leningrader Nikolai Fomin aka Dr. Bajan hat sich nicht aufs Regieren, sondern aufs urbane Volksmusizieren verlegt

Der quirlige Nikolai Fomin mit den Wuschelhaaren ist ein Virtuose am Knopf-Akkordeon, dem Bajan. Nebenbei hat er sich als Physiker noch einen Doktortitel erwirtschaftet. Deswegen eben der Künstlername als doppelter Witz sozusagen – Dr. Bajan. Den hat sich der Musiker vor 30 Jahren ausgedacht, sagt er. Vor 30 Jahren? Da grinst er nur.

Dr. Bajan, um die Verwirrung komplett zu machen, heißt auch Nikolai Fomins aktuelle Band, die außer dem „Teufelsgeiger aus St. Petersburg“ Anton Teslia und Aushilfe Oljég Matrosov von Apparatschik nichtrussisch besetzt ist. Dr. Bajan – das ist das Folk-Erbe Russlands und des Balkans genauso wie Klezmer, Blues und Rock ’n’ Roll. Aus diesen über die Jahrzehnte aufgesogenen Einflüssen bastelt Fomin als Kopf der Band Speed-Folk mit einem Schuss Anarcho-Punk ein explosives Bühnengemisch, ein berauschend irrwitziges Spektakel. Fomin präferiert für seinen Stil die Genre-Bezeichnung „moderne urbane Volksmusik“. Noch lieber wäre es ihm allerdings, seine Wortschöpfung „Sovietabilly“ hätte sich schon bis ins Musiklexikon durchgesetzt.

Als einer von über hunderttausend Russen lebt der gebürtige Leningrader in Berlin. Die Stichworte „Russentrend“, „Russendisko“ und „Wladimir Kaminer und Yuri Gurzhy“ bringen Nikolai Fomin allerdings sofort auf die Palme: „Ich will nicht, dass man in der ganzen Welt über die russische Musik nur durch diese Firma weiß. Auf den Russendisko-CDs stehen die Interpreten so klein, dass man ganz groß überall nur ‚Russendisko‘ liest. Dabei sind die doch bloß DJs, die fertige Platten aus Russland nehmen. Für mich ist das Kapitalismus pur.“ Nachdem die Erregung ein wenig gewichen ist, findet Nikolai Fomin versöhnlichere Worte: „Sie haben keinen schlechten Geschmack, sie sind keine bösen Menschen. Man kann sich viel schlimmere Leute an dieser Stelle vorstellen.“

Zurück zu seiner Musik und zu Sovietabilly. Nikolai Fomin erzählt von guten alten Zeiten auf Tour und als Straßenmusiker in Dänemark – und von dem komplizierten, energisch ungewöhnlichen Takt des Stückes „Avdotevna“, das schwerlich tanzbar und deswegen eine echte Ausnahme ist in seinem Programm. Denn eigentlich kann bei einem Dr.-Bajan-Konzert niemand stillsitzen. Die Lieder erzählen von ewiger Liebe und egoistischen Frauen, von alkoholbeeinflussten One-Night-Stands und der Trauer um die verlorene Jugend. Sie rocken – „Oh yeah!“ – und sie klezmern: „Bei uns in Russland war Klezmer extrem populär, aber die ganzen orientalischen Halbtonläufe, die für diese Musik so charakteristisch sind, haben die Russen weggemacht. Bis fast ein ganz eigener Stil herausgekommen ist – Quasi-Klezmer, bisschen milder, bisschen russifiziert.“

Vielleicht ist das alles, wie so vieles, nichts wirklich revolutionär Innovatives. Aber auf die Darreichung kommt es an – und Dr. Bajan beherrscht ohne Zweifel die hohe Kunst, sein Publikum einfach ganz buchstäblich vom Hocker zu reißen. Man folge also seinem Credo: „Alles vergeht sehr schnell, musst du heute was erleben!“ IRENE HUMMEL

Dr. Bajan live: 17. 3., 22 Uhr, Bassy Cowboy Club, Hackescher Markt 158, unter den S-Bahn-Bögen Monbijoupark