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Archiv-Artikel

Zwei Welten, zwei Zeitalter

Und eine Wiederentdeckung, Susan Sontag sei Dank: „Ein Sommer in Baden-Baden“, der Dostojewski-Roman des unter einem Schreibverbot leidenden und 1982 verstorbenen sowjetischen Naturwissenschaftlers Leonid Zypkin

Zypkin findet eigene poetische Bilder für die Leidenschaften und Leiden eines Mannes

Wie sehr muss man an die Literatur glauben, um so leben zu können? Leonid Zypkin war ein politisch verdächtiger sowjetischer Naturwissenschaftler, der nicht im Traum an Veröffentlichungen denken konnte und dennoch wie ein Besessener in jeder freien Minute schrieb. Außer seiner Familie und ein paar Freunden hatte er keine Leser. Als er 1982 starb, war sein Dostojewski-Roman „Ein Sommer in Baden-Baden“ zwar soeben in englischer Übersetzung erschienen, doch bekam er ihn nicht mehr zu Gesicht. Die Ausgabe erfuhr ebenso wenig Resonanz wie die erste deutsche Übersetzung, die 1983 in einem Kleinverlag erschien.

Dass nun, ein Vierteljahrhundert später, Zypkins Roman entdeckt wird, verdankt sich nur dem Umstand, dass Susan Sontag vor ein paar Jahren ein Exemplar in einem Antiquariat entdeckte, sich festlas und Zypkin als einen der ganz Großen des letzten Jahrhunderts erkannte. Sontags Engagement sei Dank erschienen dann neue englische Ausgaben, eine französische und nun, zu Dostojewskis 125. Todestag am 9. Februar, auch eine neue deutsche Übersetzung.

Zypkins Roman entfaltet sich im gedanklichen Spannungs- und Assoziationsfeld zwischen zwei Welten, zwei Zeitaltern, zwei Geschlechtern, mit ihm selbst oder seinem erzählerischem Alter Ego als dem einen Orientierungspunkt. Er ist auf der Reise von Moskau nach Leningrad, nein, nach St. Petersburg, denn der Autor sucht seinen Romanhelden. Dieser hat hundert Jahre zuvor in den Straßen gewohnt, die der Erzähler nun durchwandert. Der andere Orientierungspunkt, sozusagen die Koautorin, mit deren Hilfe Zypkin seinen Fjodor Michailowitsch einkreist, ist dessen zweite Frau Anna, die als Absolventin eines Stenografielehrgangs zu Dostojewski gekommen war, um sich von ihm diktieren und dann schnell auch heiraten zu lassen.

Anna Grigorjewna führte ein Tagebuch, dessen dritter und privatester Teil erst zehn Jahre nach Zypkins Tod erschien, da die Geheimkürzel der professionellen Stenografin nicht früher hatten entschlüsselt werden können. Bei der zerlesenen, von 1923 stammenden Ausgabe des Tagebuchs, die Zypkin auf seiner Reise mit sich führt, handelt es sich um dessen zweiten Teil, ein vermutlich halb offizielles Dokument, in dem Anna Grigorjewna in den Tagen nach dem Tod ihres Mannes sogar minutiös die Details seines Sterbetages zu Protokoll brachte. Im Zug nach Leningrad sitzend, liest Zypkin der Erzähler dieses Tagebuch, und Zypkin der Autor lässt aus den Einträgen die Geschichte von Anna und Fjodor aus der Vergangenheit aufsteigen.

Das Paar macht 1867 eine Reise nach Deutschland und lässt sich für den Sommer in Baden-Baden nieder, wo Fjodor täglich genau 1.457 Schritte (Glückszahl!) ins Spielkasino geht. Dort verspielt er ihr gesamtes Geld, versetzt Schmuck und Kleidungsstücke seiner Frau, bettelt den wohlhabenden Schriftstellerkollegen Gontscharow an. Und bringt alles durch, während seine Frau ihr letztes Kleid wieder und wieder stopft. Obwohl es die Frau ist, deren Tagebuch der Erzähler liest, nimmt er meist die Perspektive des Mannes ein, wenn er die komplizierte Beziehung gedanklich nachlebt.

Doch hat man beim Lesen nie das Gefühl, hier würde sich jemand die Perspektive des berühmten Schriftstellers ungebührlich anmaßen. Zypkins ruhig, aber stetig fließender Erzählstrom erschafft aus den nachgelassenen Alltagsnotizen eine mögliche Welt, drängt sich nicht auf, findet seine eigenen poetischen Bilder für die Leidenschaften und Leiden eines Mannes, der in seiner Heimat eine Ikone ist. Zypkin sucht dahinter den Menschen, stellt ihn, wo er ihn findet, und begleitet ihn wie eine treue Ehefrau in schweren Tagen und bis zum Tod. Wie Anna ihrem Fjodor seine Spielsucht verzeiht, so verzeiht der russische Jude Zypkin seinem Dostojewski dessen Antisemitismus – sosehr die russischen intellektuellen Juden auch immer unter dem Antisemitismus der russischen intellektuellen Nationalisten gelitten haben.

Als würden die Gedanken, wie es bisweilen ist beim Zugfahren, schwerelos ineinander übergehen, wird uns diese Geschichte eines Spielers, seiner Frau und seines Autors dargebracht in einer glasklaren, gut lesbaren Syntax, die ihre Sätze wie Perlen an einer Schnur aneinander reiht und selten einen Punkt am Satzende braucht. So gleitet die Erzählung, somnambul und klarsichtig zugleich, über die Zeilen, zwischen und über den Zeiten schwebend. KATHARINA GRANZIN

Leonid Zypkin: „Ein Sommer in Baden-Baden“. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Berlin Verlag, Berlin 2006, 240 Seiten, 19,90 €