Und dann die Rente mit 70

ALTERN Die Politik tut zu wenig, um das Land demografiefest zu machen, meinen ExpertInnen – und legen einen ehrgeizigen Plan vor, Arbeiten bis 70 inklusive

„Die Demografiestrategie ist bisher ein Wunschkonzert“

REINER KLINGHOLZ, EXPERTE

AUS BERLIN HEIDE OESTREICH

Die eine sieht sich als Rentnerin in einem Kiosk Snickers verkaufen. Die andere will sich mit einem Frühstücksservice selbstständig machen. Die Dritte hofft auf die Pension ihren Mannes. Und der Vierte will seinen Arbeitgeber überreden, ihn länger arbeiten zu lassen. Die Angst vor der Armut im Alter sitzt tief bei den nicht so gut verdienenden späten Babyboomern, die jetzt Ende 40 bis Ende 50 sind.

Zu Recht, könnte man aus den Forschungen des Berlin-Instituts für Demografie- und Bevölkerungsfragen schließen. Denn die Politik gehe das Demografie-Problem kaum an, so die ForscherInnen. Am Montag stellten sie in Berlin vor, was für sie eine adäquate Strategie zur Handhabung dieser Frage ist. Und erklärten in einer „Anleitung zum Wenigersein“: Die ungeliebte Rente mit 67 kann nur ein Einstieg sein.

„Wir werden zwischen 2030 und 2050 mit einer historisch einmaligen Veränderung der Bevölkerung konfrontiert“, so der Leiter des Instituts, Reiner Klingholz. Um den Überhang der in Rente gehenden Babyboomer in diesen Jahren abzufangen, seien verschiedene Eingriffe denkbar, allen voran die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Das soll nach seiner Vorstellung parallel zur Lebenserwartung steigen. 2050 soll es bei 69 Jahren liegen, 2060 dann bei 70 Jahren.

Die Demografiestrategie der Bundesregierung hat nur die Rente mit 67 im Programm und endet 2013 – in einer Zeit, in der das Demografieproblem sich gerade voll entfaltet, bemerkt der Forscher. „Dann fangen die eigentlichen Belastungen erst an, erklärt er. Und urteilt: „Die Demografiestrategie ist bisher ein Wunschkonzert.“

Wer die Debatte um die Rente mit 67 verfolgt, ahnt, warum die Regierung weitere Diskussionen lieber verschieben möchte. Denn die Deutschen werden zwar älter, aber nicht automatisch gesünder alt. In vielen Berufsgruppen müssen Arbeitende aufhören, noch bevor sie 65 sind.

Um das Rentensystem demografiefester zu machen, schlagen die ForscherInnen eine Versicherungspflicht für Selbstständige und eine obligatorische betriebliche Altersvorsorge, so wie sie der SPD vorschweben, vor. Doch sie wollen dazu auch den Ausbau der privaten Vorsorge, worauf etwa die FDP setzt. Den Einwand, dass man Geringverdiener damit überfordern könnte, pariert Klingholz damit, dass man nur die Wahl zwischen verschiedenen schlechten Lösungen habe und dies die am wenigsten schlechte sei. Zudem will er der SPD auch ein geliebtes Instrument aus der Hand nehmen: Die Rentengarantie – also das Halten der gesetzlichen Renten auf einem bestimmten Niveau – solle zurückgenommen werden.

Auch die Familienpolitik haben die ForscherInnen im Visier: Das Zusammenleben mit Kindern müsse konsequent erleichtert werden, meinte Mitarbeiterin Franziska Woellert. Die vieldiskutierten Fehlanreize des Ehegattensplittings finden auch hier ihre Kritik und einen neuen Reformvorschlag: Es solle die Individualbesteuerung gelten, die nur für Kinder (eheliche wie uneheliche) und zu pflegende Angehörige gesplittet werden kann. Das wäre also ein „Kindersplitting“ oder ein „Fürsorgesplitting“, das aber nicht mehr an den Ehestand gekoppelt ist, wie Woellert erklärt.

Insgesamt müsse die Politik stärker darauf hinarbeiten, alle Arbeitskräftepotenziale zu heben, seien es die Mütter, die in Deutschland bisher auch noch mit schulpflichtigen Kindern selten voll arbeiten, seien es weitere Zuwanderer. Das Berlin-Institut rechnet mit etwa 200.000 Einwanderern pro Jahr. Auch dieser Weg zu mehr Produktivkräften werde im Moment kaum verfolgt, so Klingholz.

Die WissenschaftlerInnen denken sich Strategien aus, müssen sie aber nicht umsetzen. Die Politik dagegen muss vor allem Akzeptanz schaffen, etwa durch deutliche Kommunikation ihrer Ziele. Wer aber für vier Jahre gewählt wird, zerbricht sich möglichst nicht den Kopf über 2050. Und er rechnet seinen WählerInnen auch nicht vor, wie lange sie zukünftig knechten müssen und wie gering ihre Rente wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Politik diese Vorschläge offensiv aufgreift, ist also denkbar gering. Vor allem im Wahlkampf.