: Stromstöße gegen Depressionen
Lange Zeit war die Elektroschocktherapie verpönt. Wenn Psychotherapie und Medikamente nicht mehr weiterhelfen, greifen Psychiater seit einigen Jahren trotzdem wieder zunehmend zu den Elektroschockgeräten. Die Methode ist nicht unumstritten
VON LUTZ DEBUS
Kontaktcreme wird auf die rechte Schläfe und den Scheitel des Patienten aufgebracht. Der Arzt hält die „Paddle“ fest. Durch einen Knopfdruck werden Stromstöße verabreicht. Acht Sekunden lang. Die Muskulatur der rechten Wange zuckt. Ansonsten reagiert der Patient nicht. Er ist in Vollnarkose. Zusätzlich wurde ihm ein Muskelrelaxan injiziert. So findet der nun folgende epileptische Anfall nur im Gehirn statt – und im rechten Fuß. Das Bein wurde abgebunden, damit die Muskelkrämpfe sichtbar und messbar sind. Der Fuß bewegt sich ruckartig. Das Gesicht aber ist inzwischen entspannt. 28 Sekunden dauert der Anfall. Der Arzt ist zufrieden. So weit der Lehrfilm für Medizinstudenten.
Elektrokonvulsionstherapie ist der Name für diese Prozedur. Gängiger ist der Begriff Elektrokrampftherapie (EKT). Früher sagte man Elektroschock. Peter Nyhuis, Psychiater an der Uniklinik Essen, ist ein Befürworter dieser Therapie: „Wenn ich eine schwere Depression hätte, würde ich diese Behandlung allen anderen vorziehen.“ Mit der Sprache des Mediziners erklärt er, warum. Und weil er merkt, dass sein Gesprächspartner ihm nicht recht folgen kann, versucht er es noch einmal anders. „Ein Teil des menschlichen Gehirns hat in etwa die Form eines Seepferdchens. Deshalb heißt dieser Teil Hippocampus. In diesem Areal werden bei gesunden Menschen täglich 1.000 neue Zellen gebildet.“ Bei depressiven Menschen, so der Psychiater weiter, kämen nur maximal 100 Zellen pro Tag hinzu. Insofern sei die Depression eine hirnorganische Erkrankung. Bei Versuchen mit Ratten habe man nachgewiesen, dass nach einer Elekrokrampftherapie das Zellenwachstum im Gehirn angeregt werde. Verantwortlich hierfür seien so genannte „Botenstoffe und neurotrophe Faktoren“, die in Folge des epileptischen Anfalls ausgeschüttet werden. Natürlich, ergänzt Nyhuis, seien solche Ergebnisse nur im Tierversuch zu erzielen. Schließlich müsse man das behandelte Gehirn in dünne Scheiben schneiden.
Günther S. ist Rentner. Früher war er Elektriker. 1999 hat ihn seine Frau verlassen. Wenig später brach auch seine Tochter den Kontakt ab. Er erkrankte an einer Depression. Man versuchte es mit Psychotherapie. Auch viele Medikamente wurden in der Uniklinik in Essen ausprobiert. Nichts besserte seinen Zustand. Dann sprach ihn Dr. Nyhuis an. Die Elektrokrampftherapie könne in so einem Fall helfen. Natürlich war der ältere Herr vor der ersten Behandlung etwas nervös. Aber schon kurz, nachdem er aus der Narkose aufgewacht war, merkte er, wie sich seine Stimmung aufgehellt hatte. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, in denen er beschwerdefrei lebte. Seit einigen Wochen ist der 73-Jährige wieder stationär aufgenommen worden. Wieder eine Depression, wieder die EKT. Sechs bis zwölf Behandlungen wird er bekommen, maximal drei pro Woche.
Es sei, so Peter Nyhuis, ein natürlicher Reflex, die EKT abzulehnen. Elektrische Impulse, die an das Gehirn geleitet werden, lassen vieles assoziieren. Und früher sei diese Art der Behandlung auch völlig anders eingesetzt worden. Ohne Narkose und Beißschutz hätten sich viele Patienten verletzt. „Die krampfenden Muskeln haben sogar so viel Kraft, um Knochen zu brechen.“ Auch sei früher ohne klare Diagnosenstellung und sogar gegen den Willen der Patienten behandelt worden. So etwas, ergänzt der Arzt mit erregter Stimme, sei heutzutage undenkbar. Die EKT werde in Deutschland nur eingesetzt, wenn der Betroffene schriftlich einwilligt oder, wenn er hierfür zu krank ist, ein gesetzlicher Betreuer dies stellvertretend für ihn tun.
Dann zeigt Peter Nyhuis das Behandlungszimmer. Ein Krankenhausbett. Ein mannshoher Apparat für die Narkose. Daneben eine kleine Blechkiste auf einem Rollwagen. Das eigentliche Gerät. „Nebenwirkungen gibt es bei der EKT natürlich, wie bei den meisten wirksamen Therapien. Etwa ein Drittel der Patienten klagen am Tag der Behandlung über Kopfschmerzen.“ Hier helfe ein normales Schmerzmittel. Die Hälfte der Behandelten würden unter kognitiven Störungen leiden. Die Merk- und Konzentrationsfähigkeit sei beeinträchtigt. Diese Symptome würden sich nach spätestens zwei Wochen zurückbilden.
Auch Wolf Müller ist Psychiater. Er ist Leiter der beiden Tageskliniken im Kreis Herford. „Elektrokrampftherapie, ja, das kommt wieder“, sagt er. Besonders die jüngeren Kollegen an den Unis seien davon angetan. Er selbst habe als Assistenzarzt mit dieser Praxis gebrochen. Als er Anfang der 70er-Jahre im Landeskrankenhaus Gütersloh anfing, da gab es noch Säle mit 30 Patienten. „Morgens und abends ging der Oberarzt mit einem Wägelchen von Bett zu Bett, und jeder bekam seinen Elektroschock.“ Müller berichtet, dass diese Praxis Mitte der 70er-Jahre am Landeskrankenhaus Gütersloh beendet wurde, weil keine Erfolge gesehen wurden.
Natürlich, so räumt Müller ein, sei die Praxis der EKT heute eine andere. Trotzdem könne er sich mit der Methode nicht anfreunden. Er sei überzeugt, dass eine psychische Erkrankung nicht nur ein hirnorganischer Defekt sei. „Viele Menschen, die zu uns kommen, haben traumatische Erfahrungen hinter sich.“ Müller berichtet von Frauen, die in ihrer Kindheit sexualisierter Gewalt ausgeliefert waren und nun unter schweren Depressionen leiden. Auf den Hippocampus, das seepferdchenförmige Gebilde im Hirn angesprochen, versucht Müller ein Lächeln. Ja, er könne sich vorstellen, dass eine Depression auch Veränderungen im Gehirn hervorruft. „Wenn man gelernt hat, seine Aggressionen nicht ausdrücken zu dürfen“, könne das eine chronische Vergiftung im Gehirn mit Adrenalin zur Folge haben.
Müller berichtet von einem Mann, der unter starken Depressionen litt. Erst, als jener sein Medikament nicht mehr zu Hause als Tablette einnahm, sondern die gleiche Substanz und Dosierung täglich von seinem Hausarzt gespritzt bekam, besserte sich sein Zustand. Die tägliche Zuwendung, so Müllers Vermutung, war in diesem Fall das eigentliche Medikament: „Wie viel mehr Zuwendung erfährt ein Patient, der an einer Uniklinik an einer international beachteten Studie des Chefarztes teilnimmt?“ Müller, der Chefarzt, muss über seine eigene Frage schmunzeln. Dann wird er wieder ernst. Menschen, die als Kind viel Gewalt erfahren haben, hätten die tragische Fähigkeit, sich wieder in gewaltvolle Situationen zu manövrieren. „Und mit einem Stromstoß einen epileptischen Anfall zu erzeugen, hat etwas mit Gewalt zu tun.“