: Der Gral des Lernerfolgs
JOHN HATTIE Über Wasser gehen kann er noch nicht, aber sich von Klippen abseilen: Der Neuseeländer gilt vielen als Messias der Pädagogik. Wer ist dieser Mann, der 80.000 Studien weltweit über Bildung und Lernen überblickt?
JOHN HATTIE
AUS OLDENBURG BENNO SCHIRRMEISTER
Nett sieht er aus, strohblondierte Haare, knallblaue Augen, grasgrünes Hemd, kommt aus Neuseeland, und ehrenamtlich ist John Hattie als Buschbrand-Retter aktiv. Im Hauptberuf praktiziert er derzeit als LehrerInnen-Erlöser: Seine auf den ersten Blick gar nicht ganz so sensationelle These, dass sich „Lehrerhandeln in ausschlaggebender Weise voneinander unterscheiden“ kann, hat Hattie zum aktuell meistzitierten, und das heißt: einflussreichsten Pädagogikprofessor der Welt gemacht.
Und jetzt schickt er sich an, das auch in Deutschland zu sein. Deshalb war er jüngst an die Carl-von-Ossietzky-Uni in Oldenburg gekommen. Genauer: Weil auch deutsche Pädagogen Fachliteratur mehrheitlich lieber in ihrer eigenen Sprache lesen, haben der Schweizer Schulentwickler Wolfgang Beywl und der Oldenburger Pädagogikprof Klaus Zierer John Hattie’s Visible Learning (2008) übersetzt. In Deutschland ist es seit einiger Zeit unter dem Titel „Lernen sichtbar machen“ im Handel.
Einflussreichster Pädagoge
„Es sind so viele Bestellungen“, sagt Rainer Schneider und kriegt rote Bäckchen unterm weißen Bart. Schneider führt seit Jahrzehnten in Hohengehren im Kreis Esslingen einen Verlag, den er von seinem Vater ererbt hat und in absehbarer Zukunft auf seinen Sohn übertragen wird. Das Profil ist puristisch: Es umfasst allgemeine Erziehungswissenschaften sowie Fachdidaktik und Regionalia, Mini-Auflagen. So etwas wie Hattie, „das hatten wir noch überhaupt nicht“, Schneiders Augen funkeln vergnügt durch die Brille, und auch den zweiten Band wollen die Übersetzer bei ihm rausbringen.
Der große Hörsaal – vor Jahren hat hier Noam Chomsky einen Vortrag gehalten – ist proppenvoll wie noch nie morgens um zehn. Lehrkräfte aus ganz Niedersachsen, Bremen und Hamburg haben sich dienstbefreien lassen und quetschen sich neben Studierenden und Rentnern in die Klappstühlchen. Auch draußen knubbeln sich noch Menschen, was kein Wunder ist, bei Hatties Ruf: Das Times Education Supplement hatte beim Erscheinen des Werks vor fünf Jahren gejubelt, der Mann habe mit seinem Opus „the answer to life, the universe and everything“ gefunden. Vielleicht gar den Heiligen Gral der Pädagogik? „Das gab’s so hier noch nie, glaube ich“, jauchzt Vizepräsidentin Gunilla Budde ins Mikro.
„Als Big Study gilt für uns sonst Pisa, das Daten von weltweit etwa 0,5 Millionen Schülern erhebt“, sagt jemand, um das Werk des Direktors des Melbourne Education Research Institute einzuordnen. Hattie aber beziehe seine Erkenntnisse „aus Daten von rund 250 Millionen Schülerinnen und Schülern, das mal nur zum Vergleich“.
Raunen. Eine unfassbare Zahl, auf die er mit einem Trick kommt, nämlich durch den Rückgriff auf 800 Metastudien, die ihre Aussagen aus den Ergebnissen von 80.000 empirischen Untersuchungen destillieren. Und egal, ob nun eine einzige Überblicksanalyse von 2007 zehn Studien mit 11.581 TeilnehmerInnen auswertet oder aber vier von ihnen Anfang der 1980er Jahre 315 Befragungen mit unbekannter Personenzahl resümieren – Hattie zieht aus allen einen Mittelwert der gemessenen Effektstärke, den er auf einheitliche Halbkreis-Grafiken überträgt, die ein wenig ans Manometer einer fußbetriebenen Fahrradpumpe erinnern. So potenziert das Verfahren die Datenmenge – und bewirkt zugleich einen Verlust von Empirie: Indem die Hattie-Studie mit mehrfach abgeleiteten statistischen Resultaten arbeitet, dürfte es sehr schwer sein, auch nur einen ihrer Werte zu falsifizieren. Man muss glauben und hoffen, dass sie etwas Richtiges treffen.
Wegweiser für Exzellenz
Darin erinnert Hatties Werk dem Projekt von Quantencomputern, bei den mit gesteigerter Chip-Zahl zwar die Rechenleistung exponentiell wächst – bloß, dass bislang nicht sicherzustellen ist, ob die auf Kalkulationen von Problemen der Wirklichkeit oder von Paralleluniversen verwandt wird.
Bei Hattie kommt dieser Verdacht auf, wo es ums Schlussfolgern geht, also im Kapitel „Wie man alles zusammenbringt“. Das benennt als „Hauptzweck dieses Buches“ zunächst, „auf der Grundlage der vielen tausend Studien ein Modell erfolgreichen Lehrens und Lernens zu erstellen“, schränkt dann jedoch ein, es solle dabei „nicht um ein zusätzliches Erfolgsrezept, eine erneute Suche nach Sicherheit, eine weitere Aufdeckung der Wahrheit“ gehen, sehr wohl aber „darum, wie Lehrpersonen und Lernende eine Strategie entwerfen“. Und damit die erfolgreich wird, gibt es dann doch „sechs Wegweiser für Exzellenz im Bildungsbereich“ – ein Modell also, das kein Rezept, aber ein Wegweiser ist. Fein. Um diesen kleinen Strauß an Zitaten aus insgesamt zwei Seiten abzuschließen: „All das ist niemals linear und nicht immer einfach.“ Und möglicherweise sogar nicht einmal immer logisch konsistent.
Aber total sympathisch, gerade im Vortrag: Grandios ist das Panorama pädagogisch wirksamer Faktoren, das er aufblättert. Und es ist bedauerlich, dass Visible Learning schon jetzt zur Waffe im methodologischen Glaubenskrieg umgeschmiedet wird, den es im Grunde für eine Weile befrieden könnte.
Hatties Mangel an Präzision begünstigt Fehllektüren. Und so ist auch nicht entschieden, ob das Buch, wie so mancher Hype, sanft verpufft, ob es die FinanzministerInnen der vielen Bundesländer dazu verleiten wird, die angeblich irrelevanten Klassengrößen großzügig auf 30 aufzustocken. Oder ob es, ganz im Gegenteil, den LehrerInnen-Berufsstand zu neuem Selbstbewusstsein erlöst. Denen gibt es nämlich hilfreiche Impulse, ihre Rolle als Aktivierende schlauer zu gestalten und sie in der Wirksamkeit ihres Unterrichts anhand von Schülerleistungen zu beobachten.
Den Idealfall dieses Feedback-Ansatzes bezieht Hattie dabei nicht aus seinen Studien und Metastudien, sondern seinem privaten Erfahrungsschatz als Search- and Rescue-Helfer: Zu diesem Ehrenamt nämlich gehört „auch das Vermitteln von Fertigkeiten und Spaß bei Rettungsaktionen an Klippen“.
Was bedeutet das? Hattie steigt mit Leuten auf ein dreistöckiges Gebäude und bringt ihnen dort bei, wie sie „sich auf der Außenseite des Hauses abseilen“. Das gerät zum Bild des idealen Unterrichts: „Typischerweise führt eine solche Lernsituation bei Lernenden dazu, dass sie sicherstellen wollen, dass ihr Wissen über Seiltechniken korrekt ist“, formuliert er trocken-witzig. Aber er hält damit doch auch das Rauschhafte der Erfahrung des Gelingens fest, dieses fast ekstatische Moment wechselseitigen Erkennens von Lehr- und Lernerfolgs. „Das ist der Kern des Modells erfolgreichen Lehrens und Lernens“, heißt es im Buch.
Es geht also um Feedbackkultur und Beobachtung im Rollenverständnis der Lehrkräfte, denn was LehrerInnen tun und wie sie denken, „what they do and how they think“, das sei entscheidend, schmettert Hattie dem Auditorium in Oldenburg entgegen. Das sei nicht der wichtigste Faktor des Bildungswesens, aber der wichtigste, der einer unmittelbaren Gestaltung zugänglich ist: Pragmatisch scheint also sinnvoll, sich bei Reformvorhaben auf sie zu konzentrieren. Für die bildungspolitische Debatte lässt sich daraus allerdings letztlich nur wenig ziehen: Die alte Forderung, Lehrerfortbildung endlich auch in Deutschland – wie im Grunde überall sonst üblich – zu einer Pflicht zu machen oder sie wenigstens zu honorieren, das wäre eine naheliegende praktische Konsequenz aus dem laut Zierer „epochalen Werk“. Eine andere: den Aufbau der Feedback- und Selbsteinschätzungskultur noch weiter, noch gezielter vorantreiben als bisher. Und das ist doch nicht nichts. Aber epochal?
Es ist ein schwungvoller Votrag. Das Publikum hört das gläubig an und wohlgestimmt. Später wird man sagen können: Ich war dabei, in Oldenburg. Und doch bleibt der Schlussbeifall merkwürdig dünn. So als wäre das Ende zu früh gekommen. Als hätte man noch auf etwas gehofft. Und das ist ja auch klar. Denn wenn Jesus schon mal kommt und tut dann doch kein Wunder – da fühlt sich wohl jeder ein wenig getäuscht.
■ John Hattie: „Lernen sichtbar machen“. Schneider Verlag Hohengehren 2013, XXXVIII und 440 S., 28 Euro