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Archiv-Artikel

Mehr Freiheit wagen!

LIBERALISMUS Guido Westerwelle und der FDP fehlt ein klarer Begriff von Freiheit. Eine wahrhaft freiheitliche Politik müsste für mehr Chancengleichheit sorgen

Peter Monnerjahn

■ ist freier Journalist und lebt in Berlin. Er promoviert derzeit an der Freien Universität im Fach Philosophie zu Karl Poppers „Open Society“, daneben arbeitet er als Dozent und Trainer. Mehr unter: www.mi.fu-berlin.de/w/Main/PeterMonnerjahn

Wenn Guido Westerwelle über die Gefahren „anstrengungslosen Wohlstands“ jammert, dann klingt das gerade so, als seien wir Bürger im Naturzustand faul und müssten möglichst mit Anstrengung zur Beschäftigung angehalten werden, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Dabei hatte man sich von seiner Partei eigentlich weniger Bevormundung erhofft als mehr, nun ja, Freiheit.

Besser als ein Vorsitzender, der wenig Verständnis von den Problemen erkennen lässt, die er lautstark kommentiert, stünde der FDP ein Vordenker zu Gesicht. Schließlich läge für eine Partei, die für eine „Stärkung der Freiheit“ stehen will, kaum etwas näher, als sich eine klare Definition von „Freiheit“ zuzulegen.

In ihrem Parteiprogramm geht die FDP immerhin einen kleinen Schritt in diese Richtung. Sie nennt als ihr Ziel, „Bürgern gleiche Chancen auf freie Entfaltung zu eröffnen“. Noch im selben Atemzug folgt allerdings das große Aber: Als „Partner der Mitte“ versteht sich die FDP als Anwalt für Menschen mit Leistungsbereitschaft, Eigeninitiative und Patriotismus. Wer diese Eigenschaften bereits hat, soll belohnt werden, und ein Schelm, wer dabei denkt, dass sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen muss, wer all das nicht bereits in die Wiege gelegt bekommen hat. In dieser beinahe calvinistischen Ethik soll jeder seines Glückes Schmied sein. Des Staates höchstes Anliegen sei es lediglich, diesem Unternehmensdrang möglichst nicht im Weg zu stehen.

Glück, im Trockenen zu sitzen

Was sich in der Theorie und mit einem zugedrückten Auge noch halbwegs plausibel anhört – und in der Praxis umstandslos zu einem Instrument der Politik für jene wird, die glücklich im Trockenen sitzen –, fällt allerdings bereits unter dem Gewicht eines lästigen kleinen Faktums zusammen: Menschen werden nicht mit gleichen Chancen geboren, und auch ihr soziales Umfeld trägt selten zu einem Ausgleich bei. Der Abbau gesellschaftlicher Hürden, die darüber noch hinaus gehen, ist für den Staat zwar löblich, stellt aber kaum mehr als einen ersten zaghaften Schritt zu tatsächlicher Chancengleichheit dar.

Wenn wir es damit ernst meinen, müssen wir vor allem wissen, was unsere Freiheit eigentlich ausmacht. Fangen wir bei ein paar alltäglichen Beobachtungen an. So würde niemand bestreiten, dass er selbständige Entscheidungen treffen kann. Klar ist aber auch, dass unsere Entscheidungen von vielen äußeren Faktoren beeinflusst werden. Wir sind weder Zombies, die nur ein Handlungsziel haben, noch können wir leugnen, von guten Verkäufern oder anderen Psychologen zu Handlungen gebracht zu werden, bei denen das Bewusstsein nicht das letzte Wort hat. Kurz gesagt: Freiheit ist relativ. Wir jagen nicht etwas Absolutem nach, das man hat oder eben nicht, sondern haben immer einen (höheren) Grad an Freiheit vor Augen.

Innere und äußere Freiheiten

Zuerst ein Blick auf die innere Seite der Freiheit. Ohne Hilfsmittel können wir weder fliegen noch längere Zeit unter Wasser verbringen, und auch Hilfsmittel lassen nicht allzu viele Freiheitsgrade zu. Im Vergleich zu unserem Körper ist unser Verstand dagegen viel freier formbar – wir nennen es Bildung. Zu einem freien Geist gehört es, Alternativen sehen und deren Konsequenzen einschätzen zu können. Frei ist, wer in vergleichbaren Situationen, statt wie ein Süchtiger reflexhaft immer dasselbe zu tun, flexibel reagieren kann und die Folgen seines Handelns sieht.

Der äußere Aspekt der Freiheit betrifft den Einfluss der Situation, in der wir eine Entscheidung treffen. Hierzu gehören positive Anreize ebenso wie mögliche Benachteiligung oder Bestrafung. Wir können zwar über die rote Ampel fahren, aber tun es aus guten Gründen besser nicht. Auch sind manche äußeren Anreize unproduktiv oder geradezu freiheitshemmend. Der soziale Preis, sich beispielsweise als schwul, Atheist oder Bayern-Fan zu outen, variiert zwar von Ort zu Ort, er zeigt aber unmissverständlich, wo der Freiheit ein mitunter böiger Wind ins Gesicht bläst.

Hieraus folgt: Jegliche Politik, die die Freiheit der Bürger als ihr Ziel formuliert, hat an zwei Fronten zu kämpfen. Deren erste ist ein Bildungsauftrag: Wer umfassend gebildet ist und sowohl viele als auch flexibel einsetzbare Fähigkeiten hat, ist immerhin mit innerer Freiheit gesegnet. Die zweite Front liegt in der Mitte der Gesellschaft: Hier gilt es, die Hürden abzubauen, die den Einzelnen davon abhalten, seine Freiheit tatsächlich auszuüben, seien es nun gesellschaftliche wie ökonomische Zwänge, Vorurteile oder autoritäre Regeln. Im Zusammentreffen beider Aspekte liegt der eigentliche Kern freiheitlicher Politik.

Individuelle Begabung fördern

Umfassende Bildung und ein bedingungsloses Grundeinkommen: Erst das würde mehr Freiheit für alle bringen

Wo wir individuelle Begabungen ausmachen und ausbilden, um mit ihnen persönliche Erfüllung zu finden, haben wir eines der höchsten freiheitlichen Bildungsideale im Blick. Freiheitliche Politik hat aber nicht nur für „Hochbegabte“ und Besserverdienende da zu sein, sondern für jede und jeden. Der erste Schritt zu diesem Ziel sind sicher nicht gleichmacherische Bildungsstandards, die zu fordern gerade der FDP peinlich sein sollte, sondern das Aufspüren und Ausbilden persönlicher Stärken, die in einen größeren Bedeutungszusammenhang gestellt gehören. Ersteres ist die aktive Suche nach Freiheitspotenzial sowie die Übung im Umgang mit ihm. Letzteres stellt die gemeinsame Basis her, auf der eine Gesellschaft konstruktiv miteinander reden kann: Das ist der einzig relevante Bildungsstandard.

Gleichzeitig können wir heute, dank Industrialisierung und immenser Produktivitätssteigerungen, jedem die Freiheit der (gesellschaftlich!) produktiven Selbstverwirklichung geben. Niemand bräuchte Angst zu haben, ohne geregeltes Arbeitsverhältnis auf der Straße zu sitzen oder keine Krankenversicherung zu haben. Das Instrument dafür heißt bedingungsloses Grundeinkommen: die unbürokratische Absicherung eines würdigen Lebensstandards. Dieses einfache Prinzip ist der natürliche Feind jeglicher Bevormundung und könnte beachtliche Mengen gesellschaftlicher Energie freisetzen. Es ist längst bezahlbar und wäre das Freiheitlichste und in der Tat Befreiendste, was unserer Gesellschaft seit Langem passiert ist.

PETER MONNERJAHN