: „Dieser Kontinent hat noch viel vor sich“
Liebeserklärung an die Peripherie: Gespräch mit Juri Andruchowytsch, Gast bei „Last & Lost“ an der Volksbühne, über das verschwindende Europa
taz: Herr Andruchowytsch, lieben Sie Europa?
Juri Andruchowytsch: Ja, natürlich. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen hat mit Europa zu tun. Im Sommer 1968 fuhr meine Mutter mit mir nach Prag. Ich war acht Jahre alt. Prag war für uns damals schon eine echte westeuropäische Stadt. Ich war begeistert von der Einheit von Natur, Architektur, Kultur. Diese jugendliche Aufbruchstimmung! Es war der Gipfel des Prager Frühlings. Freiheit lag in der Luft. Einen Monat später kamen die russischen Panzer.
Sie schreiben über die Ukraine stets in einer Art Verfallsromantik; andererseits prangern Sie an, dass Westeuropa die Ukraine nicht als europäischen Staat anerkennt.
Ukraine bedeutet übersetzt „am Rand“. Ich denke, die spannendsten Länder und Orte sind die an der Peripherie. Die fast vergessenen, die verschwindenden. Die Ukraine will mehr Aufmerksamkeit. Vielleicht war die Revolution 2004 deshalb orange. Eine Signalfarbe, die sagt, guckt mal, wir sind auch noch da.
Wenn ein Staat von einem großen Konglomerat wie der EU „geschluckt“ wird, dann wird das Wild-Romantische untergehen. Spielt der Titel des Buches „Last & Lost“, zu dem Sie mit vielen Autoren beigetragen haben, auf diesen Verlust an?
„Last & Lost“ sucht nach geografischen Punkten, Orten an allen Rändern Europas. Es geht eher um die philosophischen Teilungen als um die politischen in diesem Buch. Die Hauptidee ist, dass die Behörden der EU-Kommissionen immer daran denken sollen, dass es unglaublich viele Europas gibt. Sie dürfen nicht vereinfachen. Vereinfachung ist eine Seite der Bürokratie, die andere ist Verkomplizierung der bürokratischen Prozesse. Das Buch zeigt die Vielfältigkeit Europas und dass dieser Kontinent noch viel vor sich hat.
In Ihrer Rede auf der Buchmesse Leipzig haben Sie die EU kritisiert.
Ich bin nicht sicher, ob die EU überhaupt das Beste für Europa ist. Ich akzentuierte in meiner Rede den Ausspruch von Verheugen, der so tut, als wäre Europa ein Club, in den nur die reichen Länder kommen, die östlichen werden nicht hereingelassen. Ich denke, die Idee von einem vereinigten Europa muss viel breiter und plastischer sein als nur eine pragmatische, technologische Struktur. In erster Linie geht es um Austausch, um Reisefreiheit. Kein Grenzbeamter soll sagen „Du musst zurück, weil du ein Dieb oder eine Nutte bist“.
In Ihrer Erzählung über Brustury in „Last & Lost“ schicken die Einwohner erst die Österreicher weg, die ihren Wald fällen wollen. Dann kommen Schweizer Volontäre und räumen den Müll weg. Ist es nun gut oder nicht, dass die Westeuropäer kommen?
Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Dieser Text ist etwas Neues für mich. Ich habe ihn ohne philosophische Distanz geschrieben. Ich will die Sachen nur so zeigen, wie ich sie sehe.
Berlin war Anfang der Neunzigerjahre für viele Russen das Tor in die westliche Welt. Ist es das für die Ukrainer auch?
Ukrainer reisen viel weniger als Russen. In der Ukraine werde ich ständig gefragt, ob ich – in Berlin sitzend – überhaupt eine Ahnung habe, was in der Ukraine passiert, ob ich Heimweh habe, ob ich für immer in Berlin bleibe. Das bedeutet für mich, dass die Leute vor allem nicht verstehen, wie nah das alles beieinander liegt: Die Strecke von Berlin nach Lehmberg ist genauso lang wie die zwischen Berlin und München. Es gibt gar keine Kluft. Mit dem Flugzeug braucht man vier Stunden inklusive zwei Stunden Aufenthalt in Warschau. Das Tor für die Ukrainer ist aber eher Warschau. Deshalb existiert der tägliche Flug Lehmberg–Warschau. Und von Warschau kommt man in die ganze Welt.
Wohin will man in der Welt?
Viele Ukrainer gehen als Schwarzarbeiter nach Südeuropa. In Portugal sind sie schon die größte Minderheit. Berlin liegt auf einer nördlicheren Achse, die für Ukrainer nicht so interessant ist. Ich weiß nicht, wie viele Ukrainer in Berlin leben. Viele haben komplizierte Selbstidentitäten. Einige sagen, wir sind Russen, wir gehören zur ehemaligen UdSSR, andere sind als polnische Minderheit nach Berlin gekommen. Es gibt eine ukrainische Kirche irgendwo bei Schönefeld. Ich war aber noch nie da.
INTERVIEW: LEA STREISAND