: „Alle Menschen haben Monster“
ANGST In Australien fährt der Tod Toyota – glauben die Warlpiri, ein Stamm der Aborigines. Die Ethnologin Yasmine Musharbash lebt seit zwanzig Jahren bei ihnen. Ein Gespräch über Monster, die in Hotels leben, Assimilierungspolitik und die Grenzen der teilnehmenden Beobachtung
■ Leben: Aufgewachsen im niedersächsischen Dorf Sentrup am Teutoburger Wald und in der jordanischen Hauptstadt Amman. Sie promovierte an der Australian National University und ist seit 2009 an der University of Sydney. In diesem Sommer war sie Gastforscherin am Institut für Ethnologie an der Freien Universität Berlin.
■ Karriere: Sie machte während ihres Ethnologiestudiums an der FU Berlin einen einjährigen Studentenaustausch mit, sie ging nach Melbourne, machte einen Warlpiri-Sprachkurs und landete so auf einer Reise zufällig in Yuendumu in Zentralaustralien, wo sie seither forscht. Sie fühle sich dort zu Hause, sagt sie, Yuendumu sei so groß wie ihr Heimatdorf Sentrup, die Wüste rundherum so schön wie ihre Heimatwüste in Jordanien.
Gespräch HANNA GERSMANN UND MARTIN REICHERT Foto ANJA WEBER
sonntaz: Frau Musharbash, warum fahren in Australien Monster mit schwarzen Toyotas durch die Gegend?
Yasmine Musharbash: Jede Generation hat die Vampire, die zur ihr passen. Das ist eine Theorie in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Monsterforschung von Nina Auerbach. Vampire wandeln sich anders als andere Monster mit der Zeit. Sie verändern sich mit den Menschen.
Aktuelle Vampire haben keinen Sex.
Na ja, kommt drauf an, ob man „Twilight“ oder „True Blood“ guckt.
Gut, sagen wir „Twilight“.
Nee, gucken Sie „True Blood“, die machen nichts anderes als Sex. Aber die Monster, die schwarze Toyotas fahren, heißen Kurdaitcha. Sie gehören zur Vorstellungswelt der Warlpiri, eines Stamms der Aborigines in Australien.
Wie sehen die aus?
Sie sehen aus wie Menschen, können aber fliegen – so schnell wie ein Kugelblitz. Die Monster gab es schon, als die Warlpiri noch Jäger und Sammler waren. Also in einer Zeit, in der es noch keine Weißen in Australien gab. Damals sind die Aborigines durch die Wüste gelaufen, so wie Monster auch. Treffen die beiden aufeinander, stirbt jemand.
Warum fahren die jetzt Auto?
Die Kurdaitcha haben sich parallel zu den Veränderungen, die die Aborigines durchlebt haben – Kolonisation, dann Neokolonisation – ebenfalls verändert. Darum fahren sie heute schwarze Toyotas und wohnen in Hotels.
Die Toyotas sind immer schwarz?
Die weißen sind schon vergeben – sie werden von der australischen Regierung gefahren.
Den Autos der Monster kann man nicht ausweichen?
Das Problem: Weiße Leute können die Monster sehen. Traditionelle Heiler und solche Aborigines, denen man aus moderner Sicht eine Schizophrenie attestieren würde, auch. Andere Aborigines können das aber nicht.
Auf Monster treffen – das stand ursprünglich für die Gefahr im Busch?
Man läuft durch die Wüste, plötzlich ist jemand krank und stirbt. Da braucht man eine Erklärung.
Hitzeschlag, Herzinfarkt …
Bei den Aborigines gibt es keinen natürlichen Tod für Leute zwischen zehn und sechzig. Auch heute ist es für sie egal, ob jemand an Krebs stirbt, einen Autounfall hatte oder Suizid begangen hat. Aborigines brauchen eine Erklärung. Und die Erklärung ist ganz oft Zauberei.
Das Monster steht für den Tod?
Es erklärt ihn. Aber Kurdaitcha sind ganz spezifische Monster bei den Warlpiri, wir sprechen von einem spezifischen Stamm und einem spezifischen Monster. Bei einem anderen Stamm der Aborigines sind die Kurdaitcha schon wieder ganz anders, die weiter im Süden sind zum Beispiel Kannibalen.
Wie entwickeln sich Monster?
Menschen haben eine Krise und das Monster gibt die Erklärung für die Krise. In dem Buch „Monsters in America“ schreibt der Historiker Scott Poole, dass in der Gesellschaft immer neue Monster auftauchen. Eines seiner Beispiele: In den 50er Jahren wurden Häftlinge in US-amerikanischen Gefängnissen der Lobotomie unterzogen. Gegen ihren Willen wurden ihnen Teile des Gehirns entfernt.
Wie im Film „Einer flog über das Kuckucksnest“.
Genau, da kommen also nachts Leute, nehmen dich mit und danach hast du nur noch ein halbes Hirn. In der Zeit, als diese medizinischen Gräuel aufkamen, häuften sich die Erzählungen über Aliens. Aliens, die nachts kommen, einen untersuchen. Pooles These: Monster sind nicht fiktiv, sie sind real. Es passieren schlimme Dinge und die Monster sind deren Verkörperung.
Woran sterben die Aborigines ganz real?
Die Lebenserwartung von Aborigines liegt etwa zwanzig Jahre unter der von Nichtaborigines. Dafür gibt es verschiedene Gründe – etwa Diabetes, Nierenerkrankungen, Krebs.
Also Zivilisationskrankheiten?
Die australische Regierung erklärt den Aborigines: Wenn ihr so seid wie wir, dann sterbt ihr nicht so früh. Sie übersieht dabei ein Problem: Die Maori in Neuseeland, die Inuit in Grönland – Leute, die im eigenen Land kolonialisiert werden – haben alle eine geringe Lebenserwartung. Vielleicht ist ihre Lebenserwartung eben nicht dem Umstand geschuldet, dass sie nicht so sind wie wir. Vielleicht liegt es daran, dass wir sie kolonisieren …
Haben die Inuit auch Monster?
Alle Menschen haben Monster. Auf mittelalterlichen Karten, als noch keiner wusste, wie die Erde aussieht, stand am Rand auf Latein: Hier sind Monster. Die Monster standen für das Fremde, für das Unbekannte.
Wieso gibt es hierzulande kein Monster für Hochwasser oder den Klimawandel, dem die Menschen nicht zu begegnen wissen?
Der Mensch braucht nicht für alles, was sein Leben negativ beeinflusst, ein Monster. Im Westen hat die Rationalität das Monster verjagt. Also hat man jetzt konkret Angst vor der Flut, das Monster ist nicht mehr dazwischengeschaltet.
Die Menschen im Westen haben ihre Monster verloren?
Ein ganz tolles Beispiel kommt aus Island. Dort hat die Elektrizität die Monster verdrängt. Die hatten so kleine Gnome, die in den dunklen Ecken waren …
Elfen meinen Sie.
Mit dem Licht sind sie verschwunden.
Aber ausgestorben sind die Monster auch hierzulande nicht. Zumindest Psychologen empfehlen: Sprich mit deinen Monstern.
Monster sind Ausgeburten menschlicher Ängste. Wenn du dich mit ihnen auseinandersetzt, kommst du dem Grund für die Angst näher. Du kannst Gefahren in Form von Figuren besser bekämpfen. Aber als Aborigine bist du in einer Zwickmühle.
Was ist das dann für eine Zwickmühle?
Wenn der Tod einfach passiert, kannst du ihn nicht vermeiden. Du kannst noch so sehr dein Leben umstellen. Die Haltung ist: Es kann jeden treffen. Und das tut es dann auch. Ich habe in Deutschland Abitur gemacht. Wir waren damals achtzig Leute. Heute, 25 Jahre später, sind davon zwei tot. In Yuendemu, dem Camp der Warlpiri-Leute, wo ich forsche, gibt es niemanden in meinem Alter, die sind alle tot.
Haben Sie nicht manchmal den Impuls zu sagen: Hey, Leute, ihr braucht Insulin, es geht nicht um Monster?
Die Frage ist ja nicht nur, wie man die Diabetes eines Einzelnen bekämpfen kann. Die Frage ist: Warum sterben so viele an einer Krankheit, die sich behandeln lässt. Die Antwort, die ich darauf habe, kann eine Ethnologin nicht umsetzen. Aber ich kann über Monster schreiben und klar machen: Hier läuft etwas verdammt schief.
Erklären Sie uns, mit welcher wissenschaftlichen Methode Sie vorgehen.
Teilnehmende Beobachtung. So nennen Ethnologen das: 24 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche. Ich bin mit den Warlpiri-Leuten unterwegs und wohne bei ihnen. Ich mache, was sie machen.
Sind Sie den Aborigines nicht, wie soll man sagen, lästig?
Ich forsche seit zwanzig Jahren. Davon habe ich alles in allem um die fünf Jahre mit den Warlpiri gelebt. Ich bin dort meistens mit denselben Leuten zusammen. Sie wissen: Jetzt ist Yasmine in Yuendumu, dann ist Yasmine an der Uni in Sydney, dann ist sie in Berlin. Und sie kommt wieder. Ich bin mehr oder weniger Teil des Ganzen.
Und vor zwanzig Jahren haben Sie einfach an die Tür geklopft?
Da gab es keine Tür, aber ja, metaphorisch habe ich da geklopft. Es ist anders bei jemandem in Deutschland oder bei Aborigines in der Wohnung zu sein. Ob da noch eine Forscherin dabei ist, macht keinen großen Unterschied.
Wie ist das Leben bei den Aborigines?
In dem Haus, in dem ich lange geforscht habe, waren vier Zimmer. Im Schnitt haben da 17 Leute pro Nacht übernachtet und über ein Jahr verteilt waren mehr als 160 Leute da. Es gibt keine feste Raumaufteilung, keine festen Schlafplätze.
Wer schläft wo?
Alle sind extrem mobil. Die Hausgemeinschaft bilden in der Nacht alle, die gerade da sind. Wobei, Haus ist auch gar nicht das richtige Wort. Alle sind mehr draußen als drinnen.
Inwiefern hat Sie die teilnehmende Beobachtung – die Distanz, aber auch Nähe impliziert – verändert?
Total!
Das heißt?
Es gibt keine Privatsphäre. Du kannst keine Pläne machen. Es ist immer sehr konsensorientiert. Zu sagen, wir machen um elf ein Interview, das geht halt nicht.
Sie können mittlerweile eher loslassen?
Schwierig wird es, wenn ich wieder zwecks Analyse am Schreibtisch sitze. Man steckt ganz schön drin. Das finde ich schwieriger, als mich im Camp der Aborigines als Individuum über Wasser zu halten. Du wachst morgens auf und weißt nicht, was passiert. Das macht das Leben lebenswert. Oft passiert Grausiges, da ist schon wieder jemand gestorben. Das ist dann tragisch. In Sydney an der Universität weiß ich aber ganz genau, was dienstags um elf passiert. Da fühle ich mich eher gefangen.
Werden Sie gefragt, ob Sie Kurdaitcha gesehen haben?
Nein, Warlpiri-Leute wissen ja, dass ich sofort Bescheid sagen würde, wenn ich welche sähe.
Halten die Sie dann nicht für etwas tumb? Da sterben ständig Leute, Sie sind Weiße und sehen trotzdem keine Monster?
Es gibt immer Leute, die einen warnen, bevor die Kurdaitcha auftauchen. Wir sind unendlich oft mitten in der Nacht umgezogen.
Man kann vor den Monstern weglaufen?
Wenn jemand Fußspuren im Camp sieht, die er nicht kennt, ist das verdächtig. Dann bleiben die Älteren wach. Wir lesen ständig Werbung, wenn wir mit dem Bus durch die Stadt fahren. Zentralaustralische Aborigines lesen ständig die Spuren auf dem Boden.
Auch auf Asphalt?
In den Camps ist ja Sand. Singt dann noch ein bestimmter Vogel, kriegen Aborigines Panik. Dann brechen alle auf, packen ihre Sachen und – weg.
Ihre Forschungsarbeit – interessiert die eigentlich jemanden, oder findet das alles unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit statt?
Ich dachte, das interessiert niemanden außerhalb der Ethnologie. Stimmt aber nicht. Plötzlich interessierte sich die australische Regierung dafür, um den Alltag der Aborigines besser zu verstehen.
Das ist ein Erfolg, von dem viele Wissenschaftler träumen.
Na ja, die australische Regierung ist zurzeit sehr fokussiert auf eine Assimilierungspolitik: Werdet so wie wir! Wir bringen euch bei, wie man arbeitet, wir bringen euch bei, wie man in Häusern wohnt, wie man so wird wie wir …
Wie kommen Sie damit klar, dass für eine Politik, die Sie offensichtlich nicht gutheißen, Ihre Forschungsergebnisse verwendet werden?
Als Erstes mache ich klar: Ich stimme damit nicht überein. Das Zweite: Ich arbeite nicht für die Regierung, schreibe keine Gutachten.
Die letzte Frage, Frau Musharbash: Haben Sie selbst Angst vor Monstern?
Ja, ich habe darüber nachgedacht, was passiert, wenn ich einen Kurdaitcha treffe. Würde ich den erkennen? Was würde das bedeuten? Hätte ich dann Angst oder würde ich als gute Ethnologin teilnehmend beobachten? Das ist meine schärfste Kritik an der Ethnologie: Wo ziehe ich die Grenze?
■ Hanna Gersmann ist taz-Inlandschefin und mag Krümelmonster
■ Anja Weber ist Fotografin und hat in Australien nur Kängurus gesehen
■ Martin Reichert ist sonntaz-Redakteur und mag Fahrzeuge der Firma Toyota nicht