So wählen wir nach Orange

Eine Woche lang stand Igor Lissowsky auf dem Maidan, dem zentralen Platz in Kiew. Das war im Oktober 2004. Dann setzte eine Grippe seinem revolutionären Eifer ein Ende. Vor der Revolution in Orange hatte sich der heute 25-Jährige überhaupt nicht für Politik interessiert. „Doch was damals passierte, war einfach großartig. Weil die Leute endlich mal die Initiative ergriffen haben. Sie haben klar und deutlich Nein gesagt und gezeigt, dass sie nicht länger bereit sind, sich betrügen zu lassen.“

Entsprechend hoch waren seine Erwartungen an die Revolution in Orange. Zum Beispiel dass endlich Politiker an die Macht kommen, denen es um die Menschen geht, dass die Ukrainer sich ändern und nicht mehr gemäß dem alten ukrainischen Sprichwort leben: „Moja chata s kraju“, meine Hütte steht am Rand. Das, sagt Igor, bedeute nichts anderes als „Der Rest der Welt geht mich nichts an“.

Heute ist Igor, der mit einem Freund in einer Dreizimmerwohnung am Stadtrand von Kiew lebt, enttäuscht und verfolgt das politische Geschehen nur noch beiläufig. „Hier wird doch das gleiche Stück wie früher aufgeführt, nur mit anderen Schauspielern“, schimpft er. Der Wahlkampf sei doch nur eine Art Volksbelustigung – die Menschen liefen mit Fahnen durch die Straßen und würden vergessen, worum es wirklich gehe.

Bei den Wahlen will Igor alle Kandidaten durchstreichen. „Ich kann mich mit keinem identifizieren, aber bei uns kann man nur Personen wählen. Richtige Parteien gibt es nicht, die sind für die jeweiligen Politiker doch nur Apparate ohne eigene Strukturen.“ Besonders ärgert ihn, dass es unter den politisch Verantwortlichen nicht einen einzigen gibt, der sich für die Interessen der jungen Wähler einsetzt.

Aller Frustration zum Trotz sieht Igor, der Dolmetscher für Deutsch und Englisch, seine Zukunft hier in der Ukraine. Derzeit arbeitet er für den deutschen Verein Connect plus, der in Osteuropa Aidspräventionsarbeit leistet. Damit verdient er umgerechnet 400 Euro im Monat, das liegt knapp unter dem Kiewer Durchschnitt und reicht gerade, um über die Runden zu kommen. „In einer Firma würde ich zwar mehr verdienen“, sagt er, „aber ich habe keine Lust, irgendwo von neun bis sechs im Büro zu sitzen. Jetzt kann ich meine Zeit selbst einteilen, und diese Freiheit genieße ich.“

Gerade liebäugelt Igor mit einem längeren Auslandsaufenthalt, ein bis zwei Jahre, am liebsten in Deutschland. Etwas Neues sehen, ein anderes System kennen lernen und dann mit diesem Wissen wieder in die Ukraine zurückkehren, „um etwas für das Land zu tun“, wie er sagt. „Ich habe in der Ukraine eine Perspektive, ich will die Entwicklungen hier miterleben und aktiv mitgestalten“, sagt Igor. Wo genau in der Ukraine und vor allem wie, wenn er ungültig wählt – diese Fragen kann er nicht beantworten. BARBARA OERTEL

Zum Revolutionär wurde Vadim Bygau im Oktober 2004, und zwar in der Abteilung für Damenunterwäsche des Kiewer Kaufhauses. Dort kaufte der 48-jährige verheiratete Vater von zwei Kindern kurzerhand das gesamte Sortiment auf und verteilte die Slips unter den Bewohnern der Zeltstadt im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt. „Die Demonstranten hatten ja kaum etwas dabei“, erzählt Vadim. „Sie dachten, dass es wohl nur wenige Tage dauern würde, die Wiederholung der gefälschten Präsidentenstichwahl zu erzwingen.“

Im normalen Leben ist der Maschinenbauingenieur Inhaber einer Speditionsfirma, die er vor fünf Jahren gegründet hat. Während der Massenproteste vor anderthalb Jahren stellte er seine zwölf Angestellten frei – jeder sollte teilnehmen können. Für ihn waren die „Revolution in Orange“ und später der Wahlsieg von Wiktor Juschtschenko mit der Hoffnung auf eine grundlegende Reform des Steuersystems verbunden. „Nur wer Steuern zahlt, ist ein ehrlicher Mensch. Steuern sind die Grundlage von allem“, sagt Vadim heute. Vor der Revolution habe auch er immer doppelt Buch geführt: Ein Teil der Gehälter wurde deklariert, den zweiten Teil ihres Lohnes bekamen die Mitarbeiter aus der schwarzen Kasse ausgezahlt.

Und heute? „Daran hat sich nichts geändert“, sagt Vadim. „Würde ich die offiziellen Gehälter deklarieren, wäre ich längst bankrott.“ Auch dass der tatsächliche Wert eingeführter Waren heruntergerechnet wird, um weniger Zoll zu zahlen, sei noch immer gängige Praxis. Wenigstens das Anmelden einer neuen Firma sei jetzt einfacher, obwohl auch hier ein kleines Entgelt die Prozedur erheblich abkürze.

Trotz dieser ernüchternden Bilanz steht Vadim nach wie vor mit beiden Beinen fest im – mittlerweile zerstrittenen – orange Lager. Doch entschieden, wem er am Sonntag seine Stimme geben soll, hat er sich noch nicht: entweder Juschtschenkos Partei Nascha Ukraina oder BJUT, der Gruppierung von Exregierungschefin Julia Timoschenko. Die wirbt inzwischen mit roten Herzen. Zwar sei Juschtschenko der berechenbarere Politiker, meint Vadim. Aber Timoschenko sei es gewesen, die als Premierministerin der Schattenwirtschaft den Kampf angesagt und dem Staatshaushalt zu verdoppelten Steuereinnahmen verholfen habe. „Eigentlich ist Timoschenko eine schreckliche Frau“, spottet er, „wie ein Affe mit einer Granate: Man weiß nie, wo sie das Ding als nächstes hinwirft. Sie macht mir Angst.“

Trotz aller politischen Unwägbarkeiten ist er entschlossen, weiter zu expandieren. Gerade baut er eine Consultingfirma für Transport und Logistik auf. Vadim würde gern auch in Richtung Ausland expandieren. Deshalb meint er: „Die Ukraine sollte dem Schengen-Abkommen beitreten, dann könnten wir uns leichter bewegen. Jetzt haben wir immer noch das Gefühl, hinter dem Eisernen Vorhang zu leben.“ OER

Ljudmilla Krawtschenko tritt ans Pult. Gerade hat sie einen Film vorgeführt, in dem Szenen aus einem Wahllokal zu sehen waren. „Haben Sie irgendwelche Unregelmäßigkeiten bemerkt?“, fragt sie die Zuschauer. Ein Mann meldet sich. „Das Wählerverzeichnis war nicht ordnungsgemäß abgestempelt“, sagt er. Die 32-Jährige unterweist fünfzig Kiewer, die am Sonntag in den Wahlkommissionen sitzen werden.

Die Dozentin für ukrainische Sprache an der Kiewer Universität unterrichtet seit den Präsidentenwahlen im Jahr 2004 in Sachen Wahlgesetz. Am 26. Dezember 2004, dem Tag der Wiederholung der Stichwahl, klapperte sie mehr als ein Dutzend Wahllokale ab, um etwaige Gesetzesverstöße und Fälschungsversuche zu dokumentieren. Der Sieg Juschtschenkos war für sie gleichbedeutend mit dem Aufbruch der Ukraine nach Europa. „Ich habe mir 2004 gewünscht, dass die Menschen innerlich frei sind, frei von Angst“, sagt Ljudmilla. Und genau das sei auch eingetreten, findet die allein erziehende Mutter von elf Jahre alten Zwillingen. „Ich brauche mir heute nur meine Studenten anzusehen. Die haben sich total verändert, das sind ganz andere Menschen geworden. Jeder sagt jetzt, was er denkt“, sagt sie.

Ljudmillas Privatleben und das ihrer Söhne Jaroslaw und Wladislaw spielt sich auf 18 Quadratmetern im Wohnheim der Kiewer Universität ab. Heute verdient Ljudmilla 280 Euro im Monat, immerhin 80 Euro mehr als vor der Revolution. Doch auch dieses Gehalt reicht nicht. Deshalb übernimmt sie hin und wieder Nebenjobs. Ihre Zukunft sieht Ljudmilla aber in der Wissenschaft, die Doktorarbeit ist schon in Vorbereitung.

„Ja, ich finde auch, dass ich es schwer habe“, sagt Ljudmilla. Trotzdem gilt ihre Sympathie uneingeschränkt dem orange Lager. Auf eine Gruppierung festgelegt hat sie sich aber nicht. Dass die Protagonisten der Revolution heute zerstritten sind, zeige doch, „dass die Zeiten einer zentralistischen Leitung endgültig vorbei sind. Die Orangenen sind wie ein lebendiger Organismus, der sich entwickelt und sich schließlich von dem trennt, was schlecht für ihn ist“, sagt sie.

Im letzten Jahr war Ljudmilla zum ersten Mal im Ausland: Deutschland, Frankreich und Belgien. „Wenn mich dort jemand gefragt hat, woher ich komme, war ich stolz, sagen zu können: Aus der Ukraine“, erzählt sie. „Die Leute sind mir mit Respekt begegnet.“ Auch das ist für sie ein Verdienst der Revolution und von Präsident Juschtschenko. Der habe das nationale ukrainische Moment wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt. Vor allem junge Leute beschäftigten sich inzwischen wieder mit ukrainischer Sprache und Kultur.

In vielen Disziplinen habe die Ukraine gute Ansätze, aber die müssten endlich weiterentwickelt werden. Der Platz ihres Landes sei eindeutig Europa. „Wir“, sagt Ljudmilla, „können Europa eine Menge geben.“ OER