Blättern statt rühren
Kochbücher dominieren die Ratgeberliteratur. Als Surrogat, Heilsbringer oder Schaumschläger im kulturellen Vakuum. Eine Reise in den Kochbuchwald
VON ANNE HAEMING
Wie ein Mahnmal steht er direkt vor der Kasse, der alte Holzkohleherd mit cremefarbener Emaillefront. Eine wuchtige Erinnerung an Omas Zeiten. Die Herdplatten sind versteckt unter Bücherstapeln. „Gault Millau“, „Der Feinschmecker“, „Michelin“, „Aral-Schlemmeratlas“ – Restaurantführer für Deutschland im Jahr 2006.
Der Blick in Dieter Eckels Kochbuchhandlung in der Kölner Innenstadt gleicht einer Bestandsaufnahme des Genres. „Le livre de cuisine“ liegt neben „La coscina vasca de Fagolla“ und „Kitchen Heaven“ – Cover mit Fotos von Heilsbringern in weißer Kluft stehen neben abgegriffenen alten essen & trinken-Bänden. Seit 1987 spürt Dieter Eckel deutschen Kochtrends nach, sein Laden „BuchGourmet“ zählt zu den ältesten dieser Art im Lande. Hier treffen sich Profis und die, die sich zur Riege der Hobby-Witzigmanns zählen. Fachsimpeleien von „Adrià, Ferran“ bis „Wymann, Werner“ gehören genauso zu Eckels Laden wie die Besteller von Markenprodukten wie Jamie Oliver, Sarah Wiener, Tim Mälzer und Co. „Aber die sind bei mir von untergeordneter Ordnung“, spielt Eckel deren Präsenz herunter, er bediene in erster Linie Profis.
Es scheint unter Verlagsleuten, Händlern wie auch potenziellen Käufern längst ausgemachte Sache zu sein, dass Kochbücher seit ein paar Jahren noch besser weggehen als geschnitten Brot. Fakt ist, dass im vergangenen Jahr rund zwanzig Prozent aller verkauften Ratgeber aus dem Bereich Essen und Trinken stammten, so die Bilanz der Gesellschaft für Konsumforschung GFK. Das ist mehr als in jeder anderen Ratgebersparte. Abgesehen davon greift es längst zu kurz, Kochbücher einfach unter das Stichwort „Ratgeber“ zu subsumieren. Grundkochbücher und Titel wie „So kochen italienische Mamas“ oder „Leckere Blattsalate“ kauft eh keiner mehr, sie werden „über kurz oder lang verschwinden“, prophezeit Dieter Eckel, „so etwas holt sich doch jeder aus dem Internet“.
Stattdessen konzentriert sich alles auf zwei Sparten, allein zwischen 2003 und 2005 haben diese beiden alle anderen Kochbücher aus den Top Twenty der Jahrescharts verjagt, wie der „Kulinarische Report des Deutschen Buchhandels“ aufgeschlüsselt hat: Die Spitzentitel sind Ernährungsratgeber und – Bücher von Fernsehköchen. Spitzentitel, darauf sind Verlage im Kochbuchsektor mehr denn je aus. Der Druck sei enorm, meint Eckel. Alle Verlage wollen weniger Kochbücher machen, dafür aber zwei, drei Superseller. Dabei auf die mediale Präsenz von TV-Köchen zu setzen, ist nur konsequent. Ein „Zubrot für Sterneköche“ sei ein eigenes Buch allemal, nicht zuletzt, wenn sie es – wie viele es tun – in ihrem eigenen Restaurant vertreiben. Einige Profis unter seinen Kunden seien mitunter neidisch auf den Erfolg der Kollegen: „Die fangen sicherheitshalber schon mal an, selbst an einem Kochbuch zu schreiben“, kommentiert Eckel trocken.
Der Erfolg, der Ruhm und die damit verbundene Autorität sind Gründe, warum Rezeptbücher von bekannten Chefs gekauft werden, meint Trude Ehlert, die Grande Dame der deutschen Kochbuchforschung. Ihr Spezialgebiet an der Würzburger Universität sind zwar mittelalterliche Rezepthandschriften, aber aktuelle Phänomene interessieren sie nicht minder. „Bücher von Sterneköchen sind eine Mode, die galoppierend um sich greift.“ Für sie ist das allerdings nur Teil einer vielschichtigen Betrachtungsweise – ihr Schlagwort ist die „Polyfunktionalität“ des Kochbuchs von heute. Eine dieser Funktionen hängt ihrer Meinung nach sehr stark mit der Personalisierung der Essensratgeber zusammen. „Der Rollenwandel des Kochs in Deutschland ist enorm“, ergänzt sie. „Welch Prestigezuwachs! Den Buchkäufern wird vermittelt, die Rezepte von Sterneköchen nachkochen zu können – da findet eine Identifikation mit den Meistern statt. Und von dem Ruhm und Glanz fällt etwas auf den Hobbykoch ab.“
Das sind wohl diejenigen, die samstags in Dieter Eckels Buchhandlung die Neuerscheinungen ihrer Halbgötter in Weiß nach Inspirationen durchstöbern. Erfolg ist auch bei denjenigen der entscheidende Faktor, die sich mit Titeln über Trennkost und Glyxdiät eindecken. Denn gesunde Ernährung, Attraktivität und Erfolg gelten längst unumstößlich als Kausalkette. „Sich und seinen Körper wohl zu erhalten, das war schon im Mittelalter der Hauptgrund, dass Rezepte überhaupt schriftlich festgehalten wurden“, erklärt Ehlert, und das sei heute nicht anders. Zwar stehen hinter den Essensratgebern nicht mehr ausschließlich Mediziner wie damals üblich, aber Anleitung für gesunde Ernährung werde immer wichtiger.
Vor allem auch, „weil viele gar nicht mehr kochen können“, wie Ehlert leicht entsetzt ergänzt. „Die brauchen Bücher, in denen Schritt für Schritt erklärt wird, wie man weiße Sauce macht, die nicht klumpt.“ Solche Anleitungen sind in Birgit Vanderbekes Kochbuch nicht zu finden. Die Romanautorin hat sich zwischenzeitlich aufs Rezepteschreiben verlegt und fragt süffisant: „Schmeckt’s?“ In diesem Buch über „Kochen ohne Tabu“, so der Untertitel, finden sich weder Fotos noch genaue Anleitungen, stattdessen nur wollüstige Beschreibungen von Absurd-Bodenständigem wie „Lammhirn in Kapernbutter“ oder „Wachteln in der Papillote“. Die Arbeit an und mit den Zutaten, das ist es, was Vanderbeke ganz offenkundig am Herzen liegt, sie knetet und schüttelt und rührt mit Wonne. Die Rezepte sind in den Fließtext eingearbeitet, Hintergrundinformationen über die Zutaten kommen in eingängiger Prosa daher, es ist ein Buch mit Haltung. Der Tonfall ist lapidar: „Bei diesem Essen kann man eigentlich fast nichts falsch machen, wenn man nicht zu viele Fische auf einmal ins Öl gibt.“
Aber es gibt auch diejenigen, die nicht kneten oder rühren, sondern lediglich blättern. „Wir sind eine Gesellschaft, die vor dem Fernseher sitzt, Nüsschen knabbert und in Kochbüchern stöbert“, sagt Gunther Hirschfelder von der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Es gebe ein eklatantes Missverhältnis zwischen Kaufen und Kochen, viele Bücher kämen oft nur als so genannte Coffee-Table-Books zum Einsatz, meint auch Trude Ehlert. Ästhetischer Genuss statt Löffelabschlecken. Gucken statt Machen.
Dieses Surrogat vermittelt auch so etwas wie eine heile Welt, zumindest kulinarisch. „Wir befinden uns in einer Art kulturellem Vakuum“, erklärt Hirschfelder. „Die Systeme, mit denen wir groß geworden sind, lassen sich auf die heutige Zeit nicht übertragen. Die gängigen Ideologien sind weggefallen, es muss eine kulturelle Neuorientierung geben – und wir müssen vor allem neue Alltagspraktiken finden, um mit dieser Situation zurande zu kommen.“ Diese Suche spiegelt sich seiner Meinung nach in der steigenden Nachfrage nach Kochbüchern wider. Sie drücken eine Sehnsucht aus, findet der Bonner Kulturanthropologe: „Essen vermittelt emotionale Sicherheit. Wenn du in einem prekären Arbeitsverhältnis bist, dann willst du wenigstens ein bisschen Glück, ein schönes Essen haben.“ Letztlich, so scheint es, spiegelt das zunehmende Interesse an der Diät- und TV-Koch-Sparte wider, was auch Supernannys, Einrichtungsratgeber und Schönheits-OP-Shows befriedigen: das Bedürfnis, an die Hand genommen zu werden. Siehe da, es ist alles ganz einfach.
Doch glaubt man Beobachtern der Branche, hat der Trend sowieso längst den Siedepunkt überschritten. Nie hat es auf dem Buchmarkt so viele Titel gegeben, nicht nur in der Sparte Kochbuch. Und da Kochbücher als die Umsatzbringer schlechthin gelten, hat so gut wie jeder Verlag inzwischen eines im Programm. So auch der Berliner Film- und Musikbuch-Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf. Mit „Gequälte Brötchen“ hat er ein Buch auf den Markt gebracht, das zwar nicht verlagstypisch ist, aber die Zielgruppe dennoch ins Mark trifft. Schräg, laut und von Jovanka von Willsdorf geschrieben, der Sängerin der Indie-Band Quarks. „Essbare Märchen“ gibt es und „Tricks aus dem Küchenlabor“, manchmal hart an der Grenze zur Albernheit: Der Wortwitz steht in der Hierarchie klar über dem Rezept. Aber vom Ansatz her ist das „Küchenzauberbuch“ zum Glück ganz entspannt, nach dem Motto „Aus nichts etwas machen“. Auch Hochglanzfotos von sämigen Soßen und knusprigen Steaks sind deshalb konsequenterweise nicht dabei, dafür aber Grafiken, bunt wie Chili con Carne.
Das könnte den Anfang vom Ende der Hoch-Zeit bedeuten. Wo vorher meist verschwommene, verfremdete Fotos waren, die in erster Linie eher eine Stimmung denn eine Kochanleitung transportieren sollten, könnte jetzt wieder die handfeste Zutatenliste in den Mittelpunkt rücken: ehrlich, bodenständig, selbst gemacht.
Auch wenn die Enkel von Heinz Winkler und Alfred Biolek mit ihren Kochbüchern den Markt momentan übersättigen, letztlich scheinen alle irgendwie froh zu sein, dass es diese Nachfrage gibt. „Wir sind dankbar für jedes Kochbuch“, meint die Wissenschaftlerin Trude Ehlert, die befürchtet, dass ansonsten kulturelles Wissen verloren ginge, weil Rezepte heute nicht mehr von Generation zu Generation weitergegeben würden. Und Buchhändler Eckel freut sich, dass die TV-Köche „immer mehr Menschen zum Kochen zurückbringen“. Hauptsache, zurück an den Herd, um vom Aussterben bedrohte Kochpraktiken zu üben. Vielleicht werden die Jungköche irgendwann wieder wie im Mittelalter alles mehrfach kochen, Mengenangaben nur nach Gefühl befolgen. Und das Filet für die Länge eines Vaterunsers brutzeln lassen.
ANNE HAEMING, 27, ist promovierte Anglistin und lebt als Journalistin in Bonn