: Kunst zwischen Stigma und Befreiung
Die seit 2003 durch das Land tourende Wanderausstellung „Zeige deine Wunde – Befreiende Kunst“, die vom nächsten Wochenende an auf Kampnagel gastiert, zeigt Arbeiten von 123 KünstlerInnen mit Psychiatrieerfahrungen. Zu sehen sind 200 Exponate zwischen professioneller Kunst und Art Brut
Mitte der 1970er Jahre konfrontierte Joseph Beuys die Passanten einer Fußgängerunterführung in der Münchner Innenstadt mit einer Installation, in der er unter anderem gebrauchte Leichenbahren aus der Pathologie mit medizinischem Gerät, Fettkästen und skelettierten Vogelschädeln aufbaute. Ein Raum, der an die eigene Sterblichkeit und Verwundbarkeit erinnern sollte und dabei durchaus therapeutisch gemeint war: „Zeige deine Wunde, weil man Krankheit offenbaren muss, die man heilen will.“
1.200 KünstlerInnen mit den verschiedensten Erfahrungen aus Psychiatrie, Selbsthilfegruppen oder privatem Umgang mit psychischer Erkrankung folgten dieser Aufforderung Beuys‘ im Rahmen einer Ausschreibung des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung anlässlich des „Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen“ 2003 und reichten über 5.000 Werke ein. Eine Jury – unter anderem Christoph Schlingensief, der Künstler Klaus Staeck und die langjährige Betreuerin der Sammlung Prinzhorn der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, Inge Jádi – wählte 123 KünstlerInnen und 200 Exponate für die seither durchs Land tourende Ausstellung „Zeige deine Wunde – Befreiende Kunst“ und den Katalog aus. Vier der KünstlerInnen wurden zudem mit einem Preis ausgezeichnet. Vom 26. März bis zum 23. April ist die Ausstellung nun erstmals in Hamburg zu sehen.
Die gezeigten Arbeiten sind dabei in Bildinhalt und künstlerischer Qualität höchst heterogen und spiegeln die Divergenz von künstlerischer Profession und der „rohen Kunst“ von Autodidakten und Laien wider. Claudia Berg aus Halle etwa, die in ihrer „Kopfserie“ Gesichter zeigt, deren Physiognomie sie mit dichten schwarz-grauen Schichten bis zur Unkenntlichkeit auslöscht, ist akademisch ausgebildet. Adolf Beutler aus Berlin hingegen kam mit zwölf Jahren als „geistig Behinderter“ in die Psychiatrie und zeichnet seitdem obsessiv seine unbetitelten Arbeiten – wobei er das Blatt oft genug verlässt und den Zeichentisch miteinbezieht.
Die Ausstellung ist nicht unumstritten. Während FürsprecherInnen sie euphorisch als einen Weg aus der Stigmatisierung begrüßen, schreibt für KritikerInnen gerade der Fokus auf die Psychiatrieerfahrungen der Ausstellenden ihre Stigmatisierung erneut fest – und damit die Unterscheidung zwischen einer Kunst der Normalen und der Pathologischen.
„Wir sind der Ansicht, dass die Wirkung der Kunst in allen Fällen die gleiche ist, und dass es ebensowenig eine Kunst der Geisteskranken gibt wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken“, schrieb Jean Dubuffet Ende der 1940er Jahre im als Manifest konzipierten Katalog zur Ausstellung „Art brut préferé aux arts culturels“. Mit seiner Wortschöpfung „Art brut“ wollte er denn auch das Rohe, Subversive und Alternative künstlerischen Ausdrucks jenseits etablierter „kultureller Kunst“ bezeichnet wissen – und nicht lediglich eine „Bildnerei der Geisteskranken“. Robert Matthies