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Archiv-Artikel

„Es ist wie im Kriegszustand“

Europa weiß nicht mehr, wie man mit einer Diktatur umgehen muss, klagt Oppositionsführer Milinkewitsch

taz: Herr Milinkewitsch, was sagen Sie zu den Ereignissen der Nacht zum Freitag?

Alexander Milinkewitsch: Obwohl es zu keinen Gewaltexzessen kam, ist unsere Beurteilung eindeutig: Es handelt sich um eine ungeheuerliche Verletzung der Menschenrechte und eine Unterdrückung der Meinungsfreiheit.

Wie viele Menschen erwarten Sie zum „Tag der Freiheit“ am Samstag?

So viele wie möglich. Aber die Macht versucht alles, die Leute zu hindern. Es sind Bedingungen eines Kriegszustands.

Es scheint, der Großteil bleibt dennoch passiv.

Die Gesellschaft ist eine andere geworden: mutiger, aktiver, besser organisiert – und das, obwohl der KGB gedroht hat, jeden Demonstranten als Terroristen anzusehen.

Am Samstag wollen Sie eine Bewegung nach Art der polnischen Solidarność gründen. Was haben Sie vor?

Das Wichtigste ist, um das Denken der Menschen zu kämpfen. Wir leben in einem Informationsvakuum, der Belarusse ist wie ein Blinder, der nicht versteht, was passiert.

Aber warum ist die Bewegung im Vergleich zu den Nachbarländern so schwach?

Hätte Ihr Volk ein Nationalbewusstsein, wenn seine Geschichte erst 1917 angefangen hätte? Den Belarussen wurde durch Polonisierung und Russifizierung ihr Selbstbewusstsein genommen.

Deshalb rufen die Demonstranten lauter „Es lebe Belarus“ als „Freiheit“?

Ja. Bis heute läuft Belarus Gefahr, seine Unabhängigkeit zu verlieren. Deshalb steht für mich die Unabhängigkeit an erster und die Demokratie an zweiter Stelle.

Sind Sie zufrieden mit der Unterstützung des Westens?

Moralisch ja. Aber Europa weiß nicht mehr, wie man mit einer Diktatur umgehen muss. Wir führen keinen politischen Kampf, wir arbeiten im Untergrund. Die EU sollte sich auf Folgendes konzentrieren: Unterdrückte unterstützen, Lukaschenko nicht anerkennen und die Zivilgesellschaft stärken.

Wirtschaftssanktionen?

Die machen nur Sinn, wenn sie von einer massiven Welle der Information begleitet werden. Ansonsten wird Lukaschenko sagen: Wir haben nur Feinde im Westen. Kommt zu mir, ich werde euch beschützen.

INTERVIEW: M. GATHMANN