Es ist leichter, ein Loch zu graben

INTERSEX Aus Franz wurde Franzi gemacht, weil es leichter ist, aus einem Jungen ein Mädchen zu machen, als umgekehrt. Franzis Mutter Clara Morgen las im Zentrum TransInterQueer aus ihrem Buch „Mein intersexuelles Kind – weiblich, männlich, fließend“

Mit der Zeit lernt sie, ihr Kind nicht mehr als Junge oder Mädchen zu betrachten

„Wir wollen Ihnen raten, das Kind als Mädchen großzuziehen. So wie sein Geschlechtsteil jetzt aussieht, können wir davon ausgehen, dass es niemals wie ein Junge im Stehen Wasser lassen kann“, sagte die Gynäkologin zu Clara Morgen. Aus ihrem Franz wurde Franzi.

Sehr ehrlich und bewegend erzählt Clara Morgen in ihrem Buch „Mein intersexuelles Kind – weiblich, männlich, fließend“ von ihrer Hilflosigkeit als Mutter eines intersexuellen Kindes in den 80er Jahren: von der Engstirnigkeit der Ärzte und der Unmöglichkeit, an Informationen und Beratung heranzukommen. Heute ist ihre Tochter Franzi, die für kurze Zeit nach ihrer Geburt noch Franz hieß, erwachsen. Beratungsstellen für Intersexuelle und ihre Angehörigen gibt es einige, auch wenn die gesellschaftliche Akzeptanz immer noch weitgehend fehlt. Clara Morgen hat ein Buch aus der Sicht der Mutter geschrieben und stellt die Last dar, die sie zu tragen hatte: Sie musste über das Geschlecht ihres Kindes, das mit einem männlichen XY-Chromosom, jedoch mit Missbildung des Genitals geboren wurde, entscheiden. Der Arzt sagte: „Es ist leichter, ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu konstruieren.“ Also wurde Franzis männliches Geschlechtsteil entfernt. „Kastration“, nannte ihre Tochter das später, und Morgen war fassungslos. Das sind Erinnerungen, die sie heute noch sehr berühren. Als die Autorin vergangene Woche bei der Buchvorstellung im sozialen Zentrum TransInterQueer in Berlin diese Szenen vorträgt, kommen ihr die Tränen.

Intersexualität bedeutet eine nicht eindeutige Zuordnung zum weiblichen oder männlichen Geschlecht aufgrund anatomischer, hormoneller oder genetischer Merkmale. Viele intersexuelle Menschen haben einen männlichen Chromosomsatz bei einem scheinbar weiblichen Äußeren, so wie bei Franzi. Intersexualität kennt verschiedene Ausformungen, von denen die meisten gänzlich unerforscht sind. „4.000 geschlechtliche Differenzierungen gibt es. Und unsere Gesellschaft zwängt sie alle in diese Ideologie der Zwei-Geschlechtlichkeit“, sagte Lucie Veith, Vorsitzende des Vereins Intersexuelle Menschen e. V., bei der Buchvorstellung. Eine uneindeutige Zuordnung bedeute aber nicht ein uneindeutiges Geschlecht: „Diese Bezeichnung ist schon eine Diskriminierung. Das Kind hat ein Geschlecht: sein eigenes!“

Mit diesem Gedanken musste sich Clara Morgen auch erst anfreunden, wie sie in ihrem Buch erzählt: „Der Gedanke an ein Drittes Geschlecht, so wie es heute von manchen intersexuellen Menschen gefordert wird, ist mir in den ersten Jahren nach Franzis Geburt nicht in den Sinn gekommen. Für mich gehörte jeder Mensch von Natur aus einem der zwei Geschlechter an.“ In den ersten zehn Jahren bringt das Fehlen dieser Einsicht Clara Morgen ständig in Verlegenheit. Das Verhältnis zu der eigenen Familie, zu Kindergärtnern, zu Lehrern und Nachbarn ist immer durch das „Anderssein“ ihres Kindes belastet. Die überforderte Mutter bevorzugt es oft zu verheimlichen, statt aufzuklären: „Das Schweigen war sehr belastend, und eines Tages hielt ich es nicht länger aus, ich musste einfach über ihr Schicksal sprechen.“ Mit der Zeit lernt sie, ihr Kind nicht mehr als Junge oder Mädchen zu betrachten und es als „Gesamtkunstwerk“ zu akzeptieren, diesen Umstand sogar als Bereicherung zu empfinden. Und sie beginnt darüber zu sprechen und zu schreiben.

Sehr ausführlich schildert Clara Morgen die Säuglings- und Kindphase von Franzi, die Entwicklung des Kindes, doch vor allem ihr eigenes Innenleben. Da, wo es richtig interessant wird, in Franzis Pubertät, zieht die Mutter sich komplett zurück: „Franzis Unterleib ist ein Tabuthema für mich, für uns beide.“ Dem Leser begegnen nur viele Fragen, die er sich nicht beantworten kann. Morgen etwa fragt sich: „Schämte sie sich ihres Körpers? Wie mag es wohl in ihrem Inneren ausgesehen haben? Sie spielte den Klassenclown. Warum?“

Das sind Fragen des andauernden Zweifels und der Schuldgefühle, die so ein selbstbewusstes Buch doch beantworten können sollte? Nein, das kann es nicht. Seine Autorin hat ihre Überforderung als Schicksal erfahren, dem sie machtlos gegenüberstand: „Ich weiß, dass ich nicht alles richtig gemacht habe und mein Kind in eine Geschlechterrolle gedrängt habe. Aber ich sag immer zu Franzi: Damals musste es so sein.“

SEYDA KURT