: Mein Leben mit dem Zahnarzt
VERFALL Zahnärzte freuen sich über osteuropäische Patientinnen – so ruinierte Gebisse sind selten
VON KATJA PETROWSKAJA
Also, ich ging einmal zum Zahnarzt. So was. Ich habe doch nie Zahnprobleme gehabt. Ja, das war schon in Deutschland. Und der Zahnarzt guckte mir in den Mund. Er verstummte. Ich wusste, was er dachte: „Na ja, diese osteuropäischen Frauen, sie sind zwar schön, aber, mein Gott, was haben sie da drin?“ Ich wiederum dachte: „Na ja, Gott sei Dank, dass Sie, Herr Doktor, kein Gynäkologe sind.“ Er sagte nichts. Er schwieg weiter.
Meine Zähne haben ihn in einen Traum verfallen lassen. Er sah die Berge des Kaukasus, die er als junger Pionier hatte sehen dürfen, dann die Zwiebeltürmchen der Kirchen, die er in Moskau gesehen hatte, dann noch das Lenin-Museum in Kiew. Ich lag mit weit offenem Mund im Zahnarztstuhl und wagte nicht, in die Zukunft zu schauen, und in die Vergangenheit erst recht sowieso nicht. Ich träumte von Spritzen, von Schmerzen und dann wieder von Spritzen. Ich träumte von den Früchten der Gesundheitsreform, von meinen neuen Beschäftigungen, die meine Ersatzzähne finanzieren sollten. Ich lag und träumte.
Mein Zahnarzt dagegen erwies sich als pragmatisch und professionell: Er ist als Erster wieder in die Realität zurückgekehrt. Er guckte mich abwesend an und sagte ganz cool: „Sie müssen höchstwahrscheinlich noch ein Jahr lang zweimal pro Monat zu mir kommen“. Das machte mich sprachlos. Erstens bin ich verheiratet, und zweitens darf nicht einmal mein Mann von mir erwarten, dass ich etwas regelmäßig mache. Tja. Und ich habe dem Arzt den Rücken zugekehrt. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Zahnärzte bleiben da, wo sie sind. Die Frauen aber gehen, wenn es klappt, und die Zähne sind auch nicht für immer. Das weiß ich jetzt, Leute. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Ich habe verstanden, was Gorbatschow damit gemeint hatte. Wo Plomben fehlen, kommen später Brücken und Kronen, wird gebohrt und gezogen. Wie damals mit der Mauer. Also, Patientinnen aller Länder, beeilt euch!
Mein rumänischer Freund hatte mir das alles prophezeit, natürlich in Form eines Witzes aus den Ceaușescu-Zeiten. „Ein Skelett kommt zum Arzt. Der Arzt sagt: „Sie kommen erst jetzt?!“ Mein Freund macht sich Sorgen um mich, zu Recht. Vor Kurzem war ich wieder bei einem Zahnarzt. Er war entzückend. Er hat sich gefreut, als er so ein ruiniertes Wesen vor sich sah. Als der Doktor mit der Schilderung meiner Probleme endlich fertig war, fragte ich ihn mit kaum unterdrücktem Schluchzen: „Womit fangen wir an?“ und fügte hinzu „Rein wissenschaftlich gesehen?“. „Rein wissenschaftlich gesehen ist es sowieso zu spät“, erwiderte er mit einem Hollywood-Lächeln. Er sagte völlig souverän: „Sie können auch zu einem anderen Arzt gehen.“ Und das glitzernde Lampenlicht hinter ihm verwandelte sich für mich in einen Sonnenuntergang. Er brauchte mich nicht! Mich! Nicht brauchen!
Meine Zähne sind kaputt, und zwar fast alle. Ich war schockiert, frustriert, traumatisiert und deprimiert. Kein Wunder, wenn man seine eigene Oma beim Zahnersatz überholt. Und doch war ich froh, weil ich mich schon seit Anfang des Winters ohne jeden fassbaren Grund schockiert, frustriert, traumatisiert und deprimiert gefühlt hatte. Jetzt kenne ich zumindest den Grund dafür.
Rein wissenschaftlich gesehen blieb es aber unklar, wie man in zwei Jahren so viele Zahnlöcher bekommen kann. Jeden Tag eine Tafel Schokolade wäre keine Erklärung, weil es zu banal wäre. Und ich hasse banale Erklärungen, weil sie einfach nicht stimmen, auf jeden Fall nicht für mich. Deshalb ging ich zu einer Homöopathin, um einen noch tieferen Blick in mein Inneres zu werfen. Sie hat mich streng anthroposophisch gemustert und sagte mir auf den Kopf zu: „Sie sind komplett demineralisiert!“.
Ah, was für ein Wort! Ich ziehe es aber vor, demoralisiert zu sein! Doch niemand arbeitet daran. Niemand verführt mich. Nicht einmal mein Zahnarzt. Obwohl ich bei ihm geblieben bin. Als ich da Stunden lang in voller Bereitschaft mit offenem Mund lag und gar nichts sagte – unvorstellbar!, werden meine Freunde sagen, – habe ich an meine potenziellen Liebhaber gedacht. Ja, niemand demoralisiert mich. Was ist los, Leute? Wo bleibt ihr alle? Ist wirklich schon Schluss mit dem Ganzen? Oder habt ihr zufälligerweise schon den Artikel über Gynäkologie gelesen, den ich noch nicht geschrieben habe?
Ich habe übrigens noch einen anderen netten Freund. Er denkt immer, es gehe mir supergut, was eigentlich nicht stimmt, aber er glaubt es, und das lässt sich auch nicht ändern. Als ich ihm sagte, dass ich meinen Zahnarzt öfter sehe als meinen Mann, hat er – ah, diese gebildeten Ossis! – Bertolt Brecht rezitiert:
Es war einmal ein Huhn
Das hatte nichts zu tun.
Es gähnte alle an.
Doch als es so den Mund aufriss
Da sagte ein Hund: Je nun
Du hast ja keinen einzigen Zahn!
Da ging das Huhn zum Zahnarzt
Und kaufte sich ein Gebiss.
Jetzt kann es ruhig gähnen
Mit seinen neuen Zähnen!
Er meinte, bei mir sei alles in Ordnung, mit Zähnen oder auch ohne, ich würde nur spinnen, ich bräuchte eigentlich überhaupt keine Zähne, um so weiterzuleben, wie ich lebe, ich könne auch so rumlaufen und gähnen. Ich machte doch sowieso nichts im Leben und beiße niemanden, und Ellbogen brauchte ich auch nicht, weil ich an keinem Wettbewerb teilnähme.
Ich dachte mir aber: Das brechtsche Huhn war bestimmt privat versichert, oder es stammt noch aus Ceaușescus Zeiten, als sogar das Gebiss komplett übernommen wurde. Wie soll ich nun meine Ersatzzähne bezahlen, ich armes Hühnchen? Und dann habe ich angefangen zu rechnen – was ich pro Zeile oder pro Minute beim Radio verdiene und wie viele unterbezahlte Sendungen ich machen müsste, um meine Ersatzzähne zu bezahlen.
Ich rechnete und rechnete. Und das Ergebnis war: Das Leben geht weiter! Erstens, weil es so ist, und zweitens weil ich Verantwortungsgefühl habe. Ehrlich! Ich muss nämlich noch sehr lange leben, um genug Sendungen für meinen Zahnarzt zu machen. Es gibt noch eine Lösung, um die Bezahlung zu beschleunigen. Aber dafür müsste ich selbst Zahnärztin werden. Ah, Gorbi, jetzt verstehe ich dich!
Und dann rief mich meine Freundin an, die gerade zum ersten Mal bei meinem Zahnarzt war. Er schaute in ihren Mund rein und sagte: „Verstehe, Sie sind also aus Russland!“
■ Katja Petrowskaja, geboren in Kiew, arbeitet als freie Autorin in Berlin und ist Kolumnistin der Moskauer Zeitschrift Snob