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Archiv-Artikel

Freie Mobilität für alle!

DISKUSSION Angesichts des alten und neuen Rassismus fordern Vertreter aus Wissenschaft, Publizistik, Politik und Kultur Solidarität mit den Kämpfen von MigrantInnen

Die Debatte um die Aufklärung der NSU-Mordserie zeigt, dass ein Teil der gesellschaftlichen und politischen Eliten Deutschlands gelernt hat, im Nachhinein Rassismus zu erkennen und zu benennen. Aber in Solidarität mit den Kämpfen von MigrantInnen und Geflüchteten gegen Ausgrenzung und im Angesicht neuer nationalistischer „Bürgerproteste“ muss sich der Blick nun auf die ganze Breite der rassistischen Muster richten, die unsere Gesellschaft immer noch prägen.

Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden sind im Zuge der Aufklärung der NSU-Morde viel kritisiert worden. Wenn aber von einem systematischen Versagen die Rede ist, so ist damit meist das System der Sicherheitsbehörden gemeint – nicht der institutionelle und alltägliche Rassismus in Deutschland.

Und so werden nationalistische Diskurse gegen MigrantInnen wieder lauter. Nicht nur Neonazis, auch „aufgebrachte“ BürgerInnen vertreten ihre rassistischen Einstellungen öffentlich, und Parteien wie Pro Deutschland nutzen die Gunst der Stunde. Heute müssen in Deutschland wieder Flüchtlinge vor rassistischer Mobilisierung fliehen – in Berlin-Hellersdorf richtet(e) sich diese gegen die Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft, in Duisburg-Bergheim gegen die bloße Anwesenheit rumänischer und bulgarischer EU-BürgerInnen.

Schnell werden bei diesen Bildern Erinnerungen an die Gewalt der 1990er Jahre in Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Mölln, Lübeck und andernorts wach. Die faktische Abschaffung des Asylrechts 1993 wurde zynisch auch damit begründet, dass nur eine Verschlechterung des Asylrechts und der Lebensbedingungen der Geflüchteten in Deutschland den Pogromen ein Ende setzen würden.

Heute entdeckt immerhin selbst die Bild-Zeitung in den Hellersdorfer Vorgängen eine „Schande für die Hauptstadt“. Einsatz gegen Nazis wird weithin gelobt. Auch die bei Personenkontrollen angewandte Methode des „Racial Profiling“ wurde gerichtlich für illegitim erklärt. Doch die Gesetze von 1993 samt ihrer deutsch-nationalen Logik und Sprache gelten weiterhin. Die Reden von der Unvereinbarkeit von Islam und „westlicher Wertegemeinschaft“ ebenso wie die von den „Fluten“ südosteuropäischer “Armutsflüchtlinge“, vom „sozialen Sprengstoff“ und von „überforderten“ Kommunen folgen bekannten Mustern.

Deutsche Städte vermarkten sich zwar als „vielfältig“, doch bei leeren Kassen dominiert der Rassismus auch das Handeln der Verwaltungen. Anstatt nur über ohnehin verwässerte Verfassungsschutzreformen zu reden, müsste die Konsequenz aus dem „NSU-Komplex“ die Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sein, die das Morden unterstützt haben.

Dafür dürfen keine Bedrohungsszenarien mehr verbreitet werden. Immer mehr Flüchtlinge kommen wieder in Deutschland an. Viele von ihnen kämpfen seit über einem Jahr an mehreren Orten Deutschlands gegen ihre Diskriminierung und nennen laut ihre Forderungen. Mit Protestcamps, Hungerstreiks und Protestmärschen verlangen sie etwa ein Ende der Residenzpflicht und Anerkennung. Sie zeigen damit, dass die Kontrollierbarkeit der Migration eine Schimäre ist.

Diese Kämpfe sind die richtige Antwort auf das Ausblenden des gesellschaftlichen und staatlichen Rassismus, der auch in der sogenannten Aufarbeitung der NSU-Morde weiter besteht.

Lassen wir es nicht mehr zu, dass Migration als Erklärung für soziale Ungleichheit herangezogen wird. Verteidigen wir das Recht auf Freizügigkeit in Europa und überall. Lassen wir es nicht mehr zu, dass nationalistische Logiken und ökonomische Kalküle bestimmen, wer ein Recht auf Flucht und Migration hat. Wir antworten dem alten, neuen Rassismus mit einem kosmopolitischen Verständnis von Gesellschaft, das die freie Mobilität aller und das Recht auf politische und soziale Teilhabe voraussetzt – unabhängig von Papieren und Status. Solidarisieren wir uns mit den Kämpfen der Migration.

■ Mit dem Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung: Prof. Dr. Sabine Hess, Mely Kiyak, Prof. Dr. Annita Kalpaka, Dr. Serhat Karakayali, Prof. Dr. Athanasios Marvakis, Prof. Dr. Susanne Völker, Prof. Dr. Klaus. J. Bade, Prof. Dr. Iman Attia, Prof. Dr. Werner Schiffauer, Heiko Kauffmann, Prof. Dr. Marianne Pieper, Prof. Dr. Wolfgang Behlert, Prof. Dr. Stefanie Kron sowie 303 weitere Personen aus Wissenschaft, Publizistik, Politik und Kultur. Vollständiger Text und Möglichkeit zum Unterzeichnen unter http://solidaritaet-statt-rassismus.kritnet.org