: Stadt der Streikenden
Ver.di-Großkundgebung und protestierende Ärzte in Hannover, IG Metaller im Warnstreik: Während bei den Landesbediensteten die Zeichen auf Einigung stehen, geht der Tarifstreit in der Metallindustrie gerade erst los
aus HannoverKAI SCHÖNEBERG
Keine Wasserwerfer, keine Knüppel. Es sind nicht Millionen, die wie in Paris zur Bastille laufen, es sind nur 10.000 bei ver.di und vielleicht 200 Ärzte bei gleichzeitigen Demonstrationen in Hannover. Dazu läuten noch mal 6.000 Metaller in ganz Norddeutschland diesen Tag gleich um 00.01 Uhr mit Warnstreiks ein. Daneben, auch das ist anders als in Frankreich, stehen entspannte Polizisten und saugen an ihren Zigaretten. Alles bleibt friedlich, aber auch im kühlen Norden scheint die Wut der Beschäftigten greifbar. 85 Prozent der Deutschen blicken positiv in die Zukunft, die Wirtschaft ist so optimistisch wie seit 15 Jahren nicht mehr – und dennoch ist heute vor lauter Protest kaum noch ein Durchkommen. Ist das der „Aufstand der Anständigen“?
Während ein relativ überschaubares Häufchen niedergelassener Ärzte an der Marktkirche gegen Bürokratie im Gesundheitswesen protestiert, läuten ver.di-Granden 500 Meter entfernt einige Stunden des Pathos ein. „Hannover ist heute Streikhauptstadt“, verkündet Landeschef Wolfgang Denia von der Großtribüne auf dem Opernplatz. „Der Streik ist die Würdigung der Leistung von Hunderttausenden im öffentlichen Dienst“, donnert der ganz große ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske ins Fahnenmeer. „Wollen wir untätig sein? Ich sage: Nein, im Leben nicht!“ – das ver.di-Volk tobt und trillerpfeift.
Aus dem Saarland, aus Bayern, der Pfalz und Baden-Württemberg sind sie nach Hannover gekommen: große Pulks von Polizisten, Lehrer, Landesangestellte aus Unikliniken und Ämtern, allesamt bewaffnet mit weißen ver.di-Streikwesten und Hupen. „Möllring heißt er, uns bescheißt er“, ruft ein Trupp und meint damit den Chef der Tarifgemeinschaft der Länder. Der will ihnen ans Weihnachts- und Urlaubsgeld und hatte stets gebetsmühlenartig wiederholt, 18 Minuten Mehrarbeit pro Tag, das könne doch nicht so schlimm sein.
„Es geht nicht um 18 Minuten, sondern um den Abbau von Arbeitsplätzen“, ärgert sich eine Mitarbeiterin des Hamburger Jugendamts. Die von den Arbeitgebern angestrebte Arbeitszeitverlängerung von 38,5 auf 40 Stunden die Woche bedeute vielmehr, dass „von 17 Stellen auf die Dauer eine wegfällt – in Hamburg sind das 1.500 Arbeitsplätze“.
Bei den Protestlern in Hannover hat Bsirske noch ziemlich viel Rückhalt. Sie wissen noch nicht, dass Bsirske an diesem Morgen bereits die Zeichen auf Einigung gestellt hat. Vor Journalisten hatte der ver.di-Boss den Blick auf das Saarland gelenkt, wo am Wochenende erste Verhandlungen zwischen Gewerkschaft und Landesregierung begonnen haben. Davon könne „auch ein Impuls für andere Bundesländer ausgehen“, sagt Bsirske. Klar: Möllring habe dagegen bislang „keine Anstalten unternommen, jenseits von Bluffnummern am Verhandlungstisch zu einer Lösung zu kommen“. Allerdings sei eine Einigung im Saarland ein „Signal“.
Ein weiteres Signal hatten kurz zuvor bereits die Metaller gegeben: den Beginn ihres Arbeitskampfes. Mit brennenden Tonnen und leuchtenden Fackeln demonstrierten sie kurz nach Mitternacht vor den Toren des Hamburger Schiffbauers Blohm + Voss, für ein paar Stunden stand die Arbeit bei Faurecia in Stadthagen, bei Varta in Hannover oder bei Neoman und MAN Nutzfahrzeuge in Salzgitter still. Heute will allein die IG Metall Küste die Warnstreiks in 27 Betrieben fortsetzen. Im Nordwesten starten die Aktionen am Morgen im Airbus-Werk Varel oder in Emden, Betriebe in Bremen und Oldenburg dürften sich anschließen.
Ein weiteres Muskelspiel ums Geld. Nach Ostern könnte es Urabstimmungen über Streiks geben, drohen die Metaller. Die Bosse hätten es in den vergangenen vier Wochen der Friedenspflicht nicht mal für nötig gehalten, ein konkretes Angebot abzugeben, eine „Provokation“ sei das, höhnte Niedersachsens IG Metall-Chef Hartmut Meine. Die Metaller wollen fünf Prozent mehr Lohn, Qualifizierungsgarantien und Innovationspläne. Die Warnstreiks seien die ewig gleichen „Rituale“, die „keinen Einfluss auf den Ausgang der Tarifverhandlungen haben“, erklären die Arbeitgeber.
Ja, es sei „möglich, dass sich beide Konflikte bündeln“, sagt ver.di-Chef Bsirske am Mittag zu den Demonstranten in Hannover. Aber wahrscheinlich ist es nicht.
Heute demonstriert ver.di in Hamburg. Ab 12.30 Uhr spricht verdi-Chef Bsirske vor dem Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof