piwik no script img

Archiv-Artikel

„Wir denken in Blöcken“

INTERVIEW EDITH KRESTA und DANIEL BAX

taz: Herr Taylor, Sie gelten als Vordenker des Multikulturalismus. Wissen Sie, dass dieser Begriff hierzulande in Verruf gekommen ist?

Charles Taylor: Ja, das gilt vielerorts. Allerdings bedeutet „Multikulturalismus“ in Deutschland und Frankreich etwas völlig anderes als in Großbritannien, Kanada oder den USA. Es ist deshalb fast unmöglich, das Wort im internationalen Vergleich zu gebrauchen. Es führt nur zu Missverständnissen.

Kanada gilt als Musterland in Sachen Multikulti. Was bedeutet „Multikulturalismus“ bei Ihnen?

In Frankreich meint man damit Ghetto: etwas, das ich auch nicht will. In Kanada bedeutet es hingegen, dass sich das Land für Menschen aus anderen Teilen der Welt geöffnet hat. Das Konzept des „typischen Kanadiers“ befindet sich im steten Wandel. Es gibt keine Norm.

Jede Gesellschaft hat doch ihre Traditionen und Fundamente: Frankreich etwa die strikte Trennung von Kirche und Staat, den Laizismus. Welche Grundlagen gelten in Kanada für das Zusammenleben?

Die Grundlage bilden das Strafgesetzbuch und die Verfassung, darüber hinaus die beiden Amtssprachen Englisch und Französisch. Viel weiter geht der Konsens allerdings nicht. Niemandem würde es deshalb einfallen, von einer „Leitkultur“ zu reden.

In Deutschland wird gerade über Einbürgerungstests debattiert. Wie wird man kanadischer Bürger?

Um in Kanada einzuwandern, gibt es zwei Möglichkeiten: Man kommt als Flüchtling oder man erfüllt bestimmte Voraussetzungen – man spricht eine der beiden Amtssprachen und bringt eine gewisse Qualifikation mit.

Eine Einwanderung de luxe?

Wir haben es jedenfalls leichter als die Europäer, denn unsere Einwanderer werden sehr schnell in die Gesellschaft aufgenommen. Bei uns gibt es nicht das Phänomen wie in den französischen Vorstädten, wo die Leute schon in der zweiten und dritten Generation ohne Arbeit sitzen. Unser Integrationsproblem in Kanada, das sind die native canadians, die Inuit und Indianer: Sie sind arm, werden ausgeschlossen und es gibt viele Vorurteile gegen sie. Ansonsten ist Toronto heute vielleicht die multikulturellste Stadt der Welt: In manchen Stadtteilen sind sogar die Straßenschilder auf Chinesisch oder Italienisch!

In Europa gilt der Islam als schwer integrierbar. In Kanada nicht?

Nein, denn unsere Muslime gehören zur Mittelschicht. Wie der Islam dort gelebt wird, ist etwas völlig anderes als in einer Unterschichtsfamilie aus Anatolien. Eine Mittelschichtsfamilie kann sehr religiös sein, aber sie steht allein qua Bildung den westlichen Werten näher.

Trotzdem gibt es kulturelle Unterschiede. Wie gehen Sie etwa damit um, wenn muslimische Mädchen nicht am Sportunterricht teilnehmen dürfen?

In Quebec war es das Umkleiden nach dem Sport, das manche Eltern besorgt hat. Also hat man sich auf eine leichte, lockere Bekleidung geeinigt, damit die Mädchen am Sport teilnehmen können. Es lohnt sich, nach solchen kreativen Lösungen zu suchen, von der beide Seiten profitieren. Denn die langfristige Entwicklung geht in Richtung Integration: Diese Leute sind schließlich hierher gekommen, weil sie hier leben wollen und die Freiheit hier schätzen.

Geben die Unruhen in Frankreich nicht Anlass zu mehr Skepsis?

Diese Unruhen haben viel mit Diskriminierung zu tun. Viele dieser Jugendlichen mit einer bestimmten Herkunft oder einem bestimmten Namen, manchmal auch nur mit einer bestimmten Postadresse, finden keinen Job. Eine der treibenden Kräfte dieser Diskriminierung ist das Misstrauen gegenüber dem Islam. Dieses Misstrauen ist der Grund, warum sich viele Bemühungen um Integration zerschlagen.

In Deutschland fürchtet man sich vor konservativen Ansichten mancher Muslime, etwa zur Homosexualität.

Es gibt natürlich Muslime, die stark gegen Homosexualität eingestellt sind, aber deswegen denken noch lange nicht alle so. Und solche Konflikte werden sich nur legen, wenn man die Mehrheit der Minderheit mit ins Boot bekommt.

Es hilft nicht, die ganze muslimische Kultur zur Bedrohung zu erklären. Man muss Kompromisse schließen – mit denen, die offen sind. Die Muslime sind ja kein homogener Block. Also darf man sie auch nicht wie einen Block behandeln. Denn so trägt man dazu bei, dass sie sich tatsächlich zum Block formieren. Und das darf nicht passieren.

Ist das nicht schon passiert?

Diese Art von Blockdenken ähnelt in der Tat einer Selffulfilling Prophecy. Wir glauben immer, wir seien kein Block, wir nehmen nur die anderen so wahr. Dabei wissen wir gar nicht, wie die Mehrheit der Muslime denkt.

Was bedeutet „Kultur der Anerkennung“ im Fall des Karikaturenstreits? Für uns waren diese Karikaturen ja kein Tabubruch. Wie gehen wir in einer multikulturellen Gesellschaft mit uns fremden Tabus um?

Indem man sich darüber informiert. Es gibt Dinge, die selbst liberale Christen schockieren würden oder Frauen, weil sie sexistisch sind. Wir vermeiden so etwas, weil wir gut miteinander auskommen wollen. Muslimen sind eben andere Dinge wichtig.

Finden Sie, der Staat müsse hier Grenzen setzen – mit Gesetzen gegen Volksverhetzung oder Blasphemie?

Nein, ich denke, der Staat kann das nicht entscheiden. Ich kann mir in diesem Bereich jedenfalls keine sinnvolle Gesetzgebung vorstellen.

Wer definiert denn, was Muslimen heilig ist? Müssen wir da immer auf die konservativsten Stimmen hören?

Was wir brauchen, ist eine größere Sensibilität. Multikulturalismus setzt gegenseitiges Lernen voraus und ein gewisses Gespür dafür, wie weit man gehen kann. Man muss natürlich immer ein bisschen zu weit gehen, um die Grenzen zu testen.

Bedeutet Multikulturalismus grenzenlose Toleranz gegenüber allem?

Nein. Bestimmte Sachen müssen wir per Gesetz ausschließen: etwa, wenn es um die Beschneidung von Frauen geht.

Auch Zwangsehen?

Zwangsehen sind gegen unser Gesetz. Aber es ist natürlich schwierig zu sagen, was genau eine Zwangsheirat ist. In Kanada gibt es auch in der indischen Community die Tradition der arrangierten Ehe. Aber das geschieht auf einem so hohen soziokulturellen Niveau, dass man nicht von brachialem Zwang sprechen kann. Und wenn die Integration funktioniert, dann bricht die nächste Generation mit dieser Tradition.

Sie sind optimistisch. In Deutschland scheint es bei der zweiten Generation auch Rückschritte zu geben.

Klar ist: Eine offene Gesellschaft braucht Geduld. Rückschritte gibt es vor allem dort, wo sich Einwanderer sich von der Gesellschaft nicht angenommen fühlen. Je mehr man sich akzeptiert fühlt, desto weniger ist man anfällig für Extremismus.

Es gibt auch Gegenbeispiele.

Die gibt es immer. Ich denke mit Entsetzen an diese jungen Mittelschichtsbriten, die in der Londoner U-Bahn Bomben gelegt haben. Ich habe das Video eines Täters gesehen, das die BBC ausgestrahlt hat: Er sprach mit britischem Akzent, war Lehrer und hatte eine Familie. Aber irgendwie gibt es da diese Indentitätsstörungen.

Sind diese Identitätsstörungen nicht eine riesige Gefahr?

Ja, denn wir leben in einer Welt, in der individueller Terror als Akt der heroischen Selbstverwirklichung glorifiziert wird. Was wir fürchten müssen, ist ein Krieg der Zivilisation, den Leute wie Bin Laden schüren. Und der damit junge frustrierte Leute gewinnt, die seine Ideen aufpicken und schreckliche Dinge tun. Diese Art der Eskalation hat nichts damit zu tun, wie die Mehrheit der Muslime fühlt. Es ist eine Art globaler Krieg, der von einigen wenigen erklärt und von den Medien aufgegriffen wurde. Aber das ist überhaupt nicht im Sinne der Mehrheit der Muslime.

In Europa wird nach jedem Terroranschlag, ob nach dem Mord an van Gogh oder den Anschlägen von London, die multikulturelle Gesellschaft grundsätzlich in Frage gestellt. In den USA war das selbst nach dem 11. September nicht so. Warum?

Die Amerikaner fühlen sich von den Muslimen von außen bedroht. Die meisten US-Muslime fühlen sich dagegen fast zu hundert Prozent als Amerikaner, und Bush lädt die Imame zu sich ins Weiße Haus ein. In der Bevölkerung gibt es natürlich trotzdem viele Vorurteile gegenüber der muslimischen Welt. Aber die Muslime in den USA sind gebildet. Deshalb gibt es ihnen gegenüber nicht diese Haltung: das ist die arme und nicht assimilierte Bevölkerung.

Diese Haltung gibt es dafür gegenüber den Hispanics. Huntington fürchtet sie in seinem letzten Buch „Who we are“ mehr als die Muslime!

Ja, er fürchtet die Armut. Huntington ist der typische Antimultikulturalist: Er glaubt, nur die angloprotestantische Kultur kann das Land politisch zusammenhalten.

Was ist denn der Unterschied zwischen Samuel Huntington und Ihnen? Sie setzen doch beide langfristig auf eine Assimilation der Einwanderer.

Ja, aber ich glaube, dass sich Kulturen ständig verändern und befruchten. Es gibt eine Assimilation, aber sie bringt auch Veränderungen mit sich. Ich glaube, dass wir in Amerika in den nächsten 50 Jahren zwar immer noch Englisch sprechen werden. Aber das Spanische wird sehr wichtig werden.

Wie sieht es mit dem politischen System aus? Westliche Liberale in Europa wären entsetzt, wenn unser Recht zum Beispiel von islamischen Scharia-Gesetzen beeinflusst würde!

Das ist sehr unwahrscheinlich. In Amerika hat sich das politische System trotz aller Einwanderung seit dem Ende der Sklaverei kaum verändert. Was sich aber verändern wird, das ist die politische Kultur – die Art der politischen Organisation und der Parteien. Die ist zum Beispiel in Lateinamerika ganz anders.