: Menschen, die auf Schuhe starren
BERLIN FESTIVAL 20.000 Besucher kreischen zu Blur und den Pet Shop Boys. Wenn die Show stimmt, kann auch die Qualität des Sounds vernachlässigt werden
Es scheint fast so, als ob die Betonwüste vor den ehemaligen Gates mit ihren Stahlkonstruktionen doch noch für einen Moment weich würde. An diesem Ort, dessen Monumentalbauten einst Speer und Hitler verzückten, knutschen nun Paare, Tausende hüpfen zu den ersten Klängen von „Boys and Girls“ herum, besoffene Teenager gehen beim Tanzen zu Boden.
Die Britpop-Combo Blur spielt, sie macht aus dem Ort mit dem überdimensionierten Eingangsterminal eine Partylandschaft. Irgendwann höre ich mich selbst laut singen: „It really really really could happen“ – und erschrecke mich selbst ein wenig ob der Inbrunst, mit der die Worte aus der Lunge kommen.
Mit dem Headliner Blur erlebt Tag eins des Berlin Festivals ein Happy End. Insgesamt spielten am Freitag und Samstag auf dem Tempelhofer Feld und in der Arena Treptow mehr als 50 Bands. Laut Veranstalter kamen 20.000 Besucher.
Dabei fühlt man sich am Freitag lange etwas verloren auf der etwa zehn Fußballfelder großen Fläche – denn es ist erst etwas los, als es dunkel wird. Auf dem Areal wird man von Promoständen, Werbung und recht witzlosen Slogans („My Bändchen is better than your Bändchen“, „Niemand hat die Absicht einen Flughafen zu bauen“) überflutet.
Besser: Musik hören! Den sonnigen Nachmittag verbringe ich mit den Bosnian Rainbows, einer poppigen Progrock-Band, an der „Pitchfork Stage“ – einer von vier Bühnen. Dem smarten, Hendrix-artigen und mit Schlägerkappe ausgestatteten Gitarristen Omar Rodriguez-Lopez zuzusehen, während seine Finger das Griffbrett auf und ab gleiten, ist eine Freude. Sängerin Teri Gender Bender stürzt sich derweil ins Publikum und lässt sich durch die Menge tragen.
Wo wir schon bei Gender Bender sind: Girls and Boys bleibt das Tagesthema. Die Pet Shop Boys erzählen zu pompöser Performance mit Lasershow von den „West End Girls“ und den „East End Boys“. Zu den 80er-Hits „It’s a Sin“ oder „Domino Dancing“ kann man schon mal einen kleinen Beton-Dance hinlegen. Leider springt der Datenträger, von dem die Musik der Pet Shop Boys zu vielleicht 90 Prozent abgespielt wird.
Schuhe und Kleider werden am zweiten Tag wichtig. „Shoegazer“ nennt man den britischen Indie-Musikstil, bei dem die Interpreten zu maximal verzerrtem Gitarrengedröhne so schön entrückt auf die Schuhe starren. My Bloody Valentine sind legendär in dieser Musikrichtung. Erstmals seit über 20 Jahren gastieren sie in Deutschland. Die Menge johlt entsprechend, obwohl der Gesang bei dem breiigen Sound total untergeht. Egal, das muss so! Ein ganzer Turm von Verstärkerboxen dröhnt da vor sich hin. Auf der Videowand hinter der Band sind Explosionen zu sehen, Funken sprühen, man rast mit 200 Sachen vor den Baum. JENS UTHOFF
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