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Archiv-Artikel

Im Angst-Seelenhaus

KLASSIKER-GERIPPE Zum Saison-Auftakt inszeniert Lars Ole-Walburg am Schauspiel Hannover „Das Wirtshaus im Spessart“ – als düstere Reise ins Unterbewusste statt als Schwank im Stil des Films mit Liselotte Pulver

Ob Grübeln und Selbstkasteiung spezifisch deutsch sind, bleibt ungeklärt

Spät nachts ziehen zwei Wanderer (Daniel Nerlich und Sandro Tajouri) auf unsicheren Wegen durch den dunkelsten aller deutschen Wälder. Nur ein riesiger Mond beleuchtet die leere Bühne des hannoverschen Schauspielhauses, auf der sich die beiden Gesellen bibbernd vor Angst ihren Weg durch den Spessart bahnen. Ein diabolischer Musiker (Alain Croubalian) begleitet sie, sorgt für Geräusche im Geäst und für Nebelschwaden, mit einer handlichen Rauchmaschine. Schon vor dem Vorhang hat er „… it’s a dark night“ gesungen, und damit hat er Recht.

Als wie aus dem Nichts ein Wirtshaus aus dem Dunkel auftaucht sind die Wanderer entsetzt. Denn das, was sich da über die gesamte Bühnenbreite mit viel Ächzen und Knarren nach vorne schiebt, ist mitnichten eine sichere Herberge. Ein Skelett aus Deutschem Fachwerk (Robert Schweer), Balken ohne Füllungen. An jeder Wand hängen Mordwerkzeuge. Die Angst vor Räubern lindern auch die seltsamen Wirtsleute nicht gerade. Die verschlagene Wirtsfrau (Beatrice Frey) lässt die Katze schlachten und den Ahnungslosen als Reh-Ragout servieren.

Um wach zu bleiben, beschließen all jene, die hier Schutz suchen, sich Geschichten zu erzählen, und schnell zeigt sich: Die Gefahr droht nicht von außen. Der schlimmste Räuber steckt in den Menschen selbst. Von Habgier und Verführbarkeit handeln die düsteren Märchen, die immer mehr von den Anwesenden Besitz ergreifen. Regisseur Lars-Ole Walburg lässt Wilhelm Hauffs romantische Fabeln nicht einfach nur erzählen, sondern verwandelt das Wirtshaus-Skelett immer wieder in stürmische Küsten und undurchdringliche Wälder, eine riesige Eiche wächst plötzlich aus dem Boden.

Und die Märchenerzähler werden zunehmend eins mit ihren Protagonisten, dem gruseligen alten Weib, dem armen, vereinsamten Zwerg und dem höllischen Michel. Immer mehr wird aus der Wirtschaft ein Angst-Seelenhaus, immer seltener finden die Protagonisten den Weg zurück in die Realität. Walburg zeigt, was passiert, wenn die Angst übermächtig wird, Besitz ergreift und ihre Träger zerstört.

Falsch liegt, wer beim „Wirtshaus im Spessart“ an einen harmlosen Schwank à la Lilo Pulver denkt. Walburg übernimmt lediglich die Hauff’sche Grundkonstellation, Verwandlungskomödie und Geschlechtertausch lässt er vollkommen weg. Auch der „Blick in die deutsche Seele“, den die Vorankündigung vollmundig verspricht, bleibt uneingelöst. Es ist zwar richtig, dass diese Märchen deutsche Erzählungen sind, aber auch in anderen Ländern gibt es düstere Gleichnisse, mit denen die Menschen lange vor Freud und der modernen Psychologie ihre Furcht zu kanalisieren wussten. Ob dieses Grübeln und die Lust an der Selbstkasteiung spezifisch deutsche Probleme sind, bleibt bei diesem unheimlichen Saison-Auftakt ungeklärt.ALEXANDER KOHLMANN

Nächste Vorstellungen: 11., 19. und 20. September