: Ein wegweisender Einsatz im Bus
SOZIALES PROJEKT Der Spandauer Verein „Stark ohne Gewalt“ hat ein unkonventionelles Konzept: Jugendliche und junge Erwachsene gehen dort gemeinsam mit Polizei und BVG gegen Jugendgewalt vor. Das Projekt soll nun auf andere Bezirke übertragen werden
UFUK ALMALI, KIEZLÄUFER IN DER SPANDAUER NEUSTADT POLIZIST SIGURD BÖHME ÜBER DIE KIEZLÄUFER
TEXT: JAN MONHAUPT FOTOS: SANTIAGO ENGELHARDT
Fünf junge Erwachsene warten auf den Bus. Auch zwei Polizisten stehen an der Haltestelle am Rathaus Spandau. Und ein BVG-Fahrer. Die acht scherzen miteinander, sie lachen, sie duzen sich.
„Stark ohne Gewalt“ steht auf den grauen Kapuzenshirts der jungen Erwachsenen. „Stark ohne Gewalt“ ist ein unkonventionelles Präventionsprojekt. Seit drei Jahren gehen Jugendliche, junge Erwachsene mit PolizistInnen einmal monatlich in den Spandauer Problemvierteln Neustadt, Haselhorst und Falkenhagener Feld auf „Kiezstreife“. Dabei sprechen sie mit jungen AnwohnerInnen, informieren über die Arbeit der Polizei und versuchen, Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen.
Seit zwei Jahren fahren sie auch gemeinsam Omnibus: In Zusammenarbeit mit der BVG klären sie unter dem Motto „Stark ohne Gewalt on tour“ über Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln und richtiges Hilfeverhalten auf. Dabei belehren sie die jungen Fahrgäste nicht nur, sondern unterhalten sich mit ihnen über Interessen und Probleme.
Der Bus hält. Amal Samhat und ihre vier jungen MitstreiterInnen verteilen sich im Inneren und sprechen direkt jugendliche Fahrgäste an. Die beiden Polizisten Sigurd Böhme und Bernd Rosenplänter halten sich zunächst im Hintergrund. Sie hören vor allem zu.
Plötzlich werden sie aufmerksam: In der letzten Sitzreihe trinken zwei junge Männer Bier – zur falschen Zeit am falschen Ort. Bernd Rosenplänter geht auf sie zu. Doch Amal Samhat hat die beiden Durstigen schon in ein Gespräch verwickelt. Schnell ergibt sich ein Smalltalk über Hobbys und Musik.
Der Polizist mischt sich ein – doch statt sie zu ermahnen, unterhält er sich mit den beiden über ihre Berufsziele. Einer erzählt von seiner abgebrochenen Ausbildung. Erst zum Schluss klärt Rosenplänter die Sache mit dem Bier – ohne laute Worte, aber erfolgreich. Beim Aussteigen werfen die jungen Männer die Flaschen in einen Mülleimer. „Ich habe ihnen gesagt, dass sie zwar alt genug sind, aber dass es nicht besonders cool wirkt, schon tagsüber mit einer Bierfahne herumzulaufen“, sagt Rosenplänter. „Die waren ja auch ganz einsichtig.“
Die Anwesenheit der jungen VermittlerInnen vereinfache die Arbeit der Polizei erheblich, findet Bernd Rosenplänter. „Die jungen Leute sind Türöffner für uns“, ergänzt sein Kollege Sigurd Böhme. „Sie haben direkt einen Draht zu den Gleichaltrigen.“ Dabei würden sie aber nicht als Erfüllungsgehilfen bei Polizeikontrollen dienen, versichert er. „Wir ziehen alle an einem Strang.“
Anlass zu der ungewöhnlichen Kooperation war ein Vorfall im Januar 2007: Nach Polizeiangaben lieferten sich damals 60 bis 80 Jugendliche am Spandauer Bahnhof und in der Neustadt Schlägereien. Es gab Körperverletzungen und Sachbeschädigungen. Um solche Situationen in Spandau in Zukunft zu verhindern, wandte sich die Polizei an Raed Saleh, den Vorsitzenden der AG Migration der SPD Spandau und Mitglied im dortigen SPD-Kreisvorstand. Der organisierte daraufhin ein Treffen, zu dem AnwohnerInnen, Polizei sowie VertreterInnen der lokalen Vereine, Moschee- und Kirchengemeinden kamen, um gemeinsam eine Lösung zu finden.
Bedrohlich und provokant
Anfangs sei die Atmosphäre aufgeheizt gewesen, auf allen Seiten habe es Vorurteile gegeben, berichtet Saleh: „Die Jugendlichen empfanden die Polizeistreifen mit ihren Sirenenwagen als bedrohlich und provokant.“ Die Polizei habe sich dagegen von den Jugendlichen bedrängt gefühlt, die meist in Überzahl auftraten: „Bei Gesprächen mit einzelnen Personen haben sich Menschentrauben von bis zu 30 Personen um uns herum versammelt. Das macht einen schon nervös“, beschreibt Polizist Sigurd Böhme die damalige Situation im Kiez.
Im April 2007 gingen Polizisten erstmals mit Jugendliche gemeinsam auf Streife. Mit raschem Erfolg, wie Böhme meint: „Schon ein halbes Jahr danach sind bei unseren Einsatzfahrten Jugendliche auf uns zugekommen und haben uns ihre Hilfe angeboten.“
Rund 200 Jugendliche und junge Erwachsene mit und ohne Migrationshintergrund beteiligen sich zurzeit ehrenamtlich bei „Stark ohne Gewalt“. „Wir wollen das Klima im Kiez verbessern und Gewalt verhindern“, sagt Amal Samhat. Die 26-Jährige koordiniert die Touren und lebt selbst in der Spandauer Neustadt.
Gerade straffällig gewordene Jugendliche hätten der Polizei anfangs misstraut, erzählt sie. „Manche haben zu mir gesagt: Du kannst gerne herkommen, aber bleib mir mit der Polizei fern.“ Doch durch Gespräche und Informationen über die Polizeiarbeit komme man gut voran. „Nur jeder Zehnte ist nicht bereit, mit uns und der Polizei zu reden.“ An diesem Tag hat sie in zwei Stunden „on tour“ mit ihren vier jüngeren HelferInnen 75 Gespräche geführt.
Das Projekt hat allerdings noch mehr zu bieten als deeskalierende Gespräche. Seit 2008 ist „Stark ohne Gewalt“ ein gemeinnütziger Verein, der den Jugendlichen Freizeit- und Bildungsangebote macht – von Musik-Workshops, Sportwettbewerben mit gemischten Teams aus Jugendlichen, PolizistInnen und BusfahrerInnen bis zu Bildungsangeboten. Der Verein unterstützt die Jugendlichen auch bei der Suche nach Praktikums- oder Ausbildungsstellen. „Wenn jemand seine Chance nutzen will, dann helfen wir ihm“, erklärt Vereinsgründer Raed Saleh.
Kriminell und überfordert
Einer, der seine Chance genutzt hat, ist Ufuk Almali. Noch vor wenigen Jahren lebte er ohne Perspektive in den Tag hinein, schwänzte die Schule und war kriminell. Wegen schwerer Körperverletzung saß er sogar im Jugendarrest. „Ich war jung“, entschuldigt sich der 19-Jährige. Zu jung für die zu hohen Anforderungen an Jugendliche heutzutage, wie er meint: „Heute muss man schon mit 14 oder 15 Jahren seine Zukunft planen, obwohl man im Kopf noch ein Kind ist.“
Durch eine Freundin kam Ufuk Almali vor zwei Jahren zu dem Projekt und zum HipHop. „Die Musik war der Ansatz, um aus meiner Situation herauszukommen“, sagt er. Mittlerweile schreibt er selbst Lieder und hat eine eigene Band, mit der er regelmäßig auftritt und sogar etwas Geld verdient. „Stark ohne Gewalt ist für mich zur zweiten Familie geworden“, sagt Almali.
Mithilfe des Vereins holte er seinen Realschulabschluss nach und bekam einen Job in einem Café in der Spandauer Altstadt. Dort habe er nun sogar einen Ausbildungsplatz in Aussicht, erzählt er. Wenn Ufuk Almali nicht arbeiten muss, ist er auch bei den Kiezstreifen dabei. Obwohl er früher kriminell gewesen sei, schrecke ihn die Zusammenarbeit mit der Polizei nicht ab. „Früher war ich gegen sie, jetzt arbeite ich halt mit ihr.“
Im Rückblick überrascht ihn seine persönliche Entwicklung aber selbst: „Das war ein krasserer Wechsel“, sagt er, „als wenn man in ein anderes Land zieht, obwohl man immer noch in derselben Stadt lebt.“ Der Weg sei lang gewesen, immer wieder habe er gezweifelt: „Soll ich es riskieren, meine zweite Familie wieder zu verlieren, indem ich Scheiße baue, nur um meinen Spaß zu haben?“
Doch Ufuk Almali hat sich entschieden, gegen die Kriminalität. Wo wäre er heute ohne „Stark ohne Gewalt“? „Wahrscheinlich im Knast“, sagt er und grinst verschämt. Daher versucht er nun, auch seine Freunde von dem Projekt zu überzeugen. „Ich ziehe sie runter von der Straße und rein ins Studio, um Musik zu machen.“ Sie seien ebenfalls bereit, sich zu ändern: „Keiner von denen will lieber kriminell sein.“
„Die Jugendlichen sind eine unverzichtbare Ressource“, sagt Raed Saleh. Er glaubt, dass das Projekt „ein Rezept für die gesamte Gesellschaft“ sein kann. Er wolle das Wir-Gefühl stärken, unabhängig von Religion und Herkunft. „In der Neustadt haben wir mit 40 bis 45 Prozent einen ähnlich hohen Migrantenanteil wie in Nordneukölln. Aber hier polarisiert das nicht. Hier arbeiten Deutsche und Migranten gemeinsam.“ Es ärgert ihn daher sehr, wenn PolitikerInnen davon ausgehen, dass es MigrantInnen grundsätzlich am Integrationswillen fehlt, und von Parallelgesellschaften reden. „Die Gesellschaft ist schon viel weiter als die Politik“, sagt Saleh.
Mittlerweile ist aber auch sie auf das Spandauer Projekt aufmerksam geworden – im Herbst 2009 hat der Senat es zum Modellprojekt erklärt: Mit Mitteln des Förderprogramms „Soziale Stadt“ wird nun untersucht, ob das Prinzip auch auf andere benachteiligte Stadtteile übertragen werden kann.