: „Ich bin nicht im Phantasialand“
INTERVIEW KLAUS JANSENUND MARTIN TEIGELER
taz: Frau Kraft, Sie haben die SPD als „Landesregierung im Wartestand“ bezeichnet. Sehen Sie sich als Ministerpräsidentin im Wartestand?
Hannelore Kraft: Nein. Diesen Begriff würde ich nicht mehr verwenden, das kann missverstanden werden. Es geht mir nicht um Personen im Wartestand. Ich wollte damit sagen, dass wir als Opposition jetzt keine Phantasieanträge stellen, sondern dass wir uns politisch verantwortungsvoll verhalten wollen.
In der SPD-Fraktionsspitze haben Sie jedenfalls das halbe Kabinett von früher versammelt: Ute Schäfer, Axel Horstmann, Birgit Fischer... Ist das ein Problem?
Das war alternativlos.
Weil neues Personal fehlt?
Nein, weil wir nach der verlorenen Landtagswahl schnell in Tritt kommen mussten. Das hat im übrigen jeder der alten Minister für sich selbst entschieden, ob er in seinem früheren Bereich bleiben will. Ich wäre aber auch verrückt gewesen, wenn ich die Kompetenz meiner Kollegen nicht genutzt hätte. Sie haben ein Netzwerk, das wir dringend brauchen, weil wir nicht mehr den Zugang zum Fachwissen der Ministerien haben. Und wir haben Wissen, das wir auch gut gebrauchen können. Wenn Sie die Landtagsdebatten verfolgen, sehen Sie, dass wir sehr gut dagegen halten können. Im Vergleich zu anderen Bundesländern haben wir mit unserer Mannschaft einen guten Start in der Opposition hingelegt.
Sie sind in der Opposition für die Attacke zuständig.
Nicht nur Attacke. Mit dem Parteitag gehen Partei und Fraktion jetzt in die inhaltliche Diskussion rein. Wir suchen neue Positionen in den wichtigen Feldern Arbeit, Wirtschaft und Schule. Dafür brauchen wir Zeit. Wir haben zuerst analysiert, was wir in der Regierung richtig gemacht haben, aber auch was wir falsch gemacht haben.
Was wurde falsch gemacht?
Nehmen Sie den Bereich Schule. Da waren wir auf einem guten Weg, haben aber einiges nicht zu Ende gebracht. Auch bei Hartz IV ist nicht alles richtig gelaufen – auch wenn die Grundideen einer Verzahnung von Wirtschaft und Arbeit und von Fördern und Fordern nicht falsch sind.
Wie gehen Sie damit um, dass Ihnen die Fehler von 39 Jahren Regierungszeit immer vorgehalten werden können?
Damit müssen wir leben. Die neue Regierung führt unsere Politik in vielen Bereichen einfach weiter, etwa in der Wirtschafts- und in der Forschungspolitik. Neue Ideen kommen da nicht. Die kleben ein anderes Etikett drauf, und fertig.
Es entsteht der Eindruck eines Rollenwechsels. Früher war Jürgen Rüttgers gegen Sozialkürzungen, jetzt sind Sie es. Früher wollten Sie konsolidieren, jetzt er. Ist das nicht beliebig?
Dieser Eindruck entsteht vielleicht, wenn man nur die Schlagzeilen liest. Für die Betroffenen der Landespolitik gibt es sehr wohl Unterschiede. Nehmen Sie den Haushalt: Die Wohlfahrtsverbände sind frustriert, weil bei ihnen gekürzt wird – sie sind aber noch viel mehr frustriert, weil mit ihnen überhaupt nicht mehr geredet wird. Wenn die Verbände mit der CDU-Fraktion diskutieren wollen, wiegelt die ab und sagt, dass nichts geändert wird.
Auch Rot-Grün hat gekürzt.
Aber wir haben das wenigstens sachlich durchdacht. Das Weihnachtsgeld für Beamte haben wir ja nicht ohne Grund nur befristet gekürzt – und niedrigere Einkommen ausgenommen. Die neue Regierung macht das völlig anders: Die kürzen radikal. Ich habe nie etwas versprochen, was ich nicht halten kann. Ich glaube, ich habe aus meiner Zeit als Ministerin immer noch ein gutes Standing bei den Arbeitnehmervertretern, weil ich denen immer reinen Wein eingeschenkt habe. Und jetzt? Der Herr Laschet rennt als zuständiger Minister im November zu den Frauenhäusern und verspricht denen, dass nichts gekürzt wird. Im Dezember erfahren sie dann aus der Zeitung, dass es ein Minus von 30 Prozent gibt. Das läuft völlig anders als bei uns.
Sie hätten die Kürzungen beim Weihnachtsgeld also auslaufen lassen?
Da hätte man noch mal reden müssen. Ich bin ja nicht im Phantasialand gelandet. Natürlich muss gespart werden – aber wir werden deutlich machen, dass nicht die Kleinsten die größten Verlierer sein müssen wie bei Schwarz-Gelb, sondern dass es auch anders geht. Wir setzen in diesem Haushalt einen klaren Schwerpunkt auf Kinder, Familien und Erhalt sozialer Netze. Außerdem saniert der Rüttgers ja überhaupt nicht. Erstens schrumpft der Haushalt nicht, wenn man die Einmaleffekte rausnimmt – er wächst um 0,22 Prozent. Dieser Haushalt ist kein Sparhaushalt, der ist ein Umverteilungshaushalt zum Beispiel zu Lasten der Kommunen. Und außerdem ist er verfassungswidrig.
Das waren Ihre Haushalte auch...
Einspruch! Wir haben immer dargelegt, dass es eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gibt und deshalb die Verfassungsgrenze des Haushalts überschritten wird. Das ist ein riesengroßer Unterschied zu Finanzminister Linssen. Der sagt einfach ohne jede rechtlich haltbare Begründung, es sei unmöglich einen verfassungsgemäßen Haushalt vorzulegen – basta.
Rüttgers nennt seinen Haushalt ehrlich.
Albern. Was ist daran ehrlich, wenn man sich einen Sparstrumpf beim Bau- und Liegenschaftsbetrieb anlegt? Oder daran, dass die Steuermehreinnahmen nicht im Haushalt auftauchen? Jeder weiß doch, dass die Einnahmen sprudeln.
Es gibt also keinen Grund zu sparen?
Natürlich muss man sparen. Es ist nur so, dass Rüttgers den Menschen vor der Wahl drei Sachen versprochen hat: Erstens, dass er die Neuverschuldung reduziert. Zweitens, dass er etwas für die eine Million Arbeitslosen tut. Und drittens, dass er den Unterrichtsausfall beseitigt. Gar nichts kommt da. 4.000 Lehrer wollte Rüttgers einstellen. Jetzt sehe ich in diesem Haushalt: Da sind gerade mal 500 Lehrerstellen drin. Nochmal: sparen ja, die Frage ist nur wo. Ich war kürzlich in Oberhausen, da sind in einem einzigen Stadtteil schon vier offene Jugendeinrichtungen geschlossen worden. Da bricht eine ganze Struktur weg.
Und die SPD ist ohnmächtig, weil sie nicht mehr gestalten kann.
Wir empfinden uns nicht als ohnmächtig, wenn 20.000 Leute vor dem Landtag gegen die Regierung demonstrieren. Das zeigt doch, dass wir mit unserer Meinung nicht allein sind. Natürlich kommen wir als Opposition in der Presse nicht so vor wie eine Regierung. Aber wir können unsere Netzwerke in den Kommunen und Verbänden nutzen, um gegen die Sozialkürzungen anzukämpfen. Hilflos sind wir nicht.
Dennoch hat die NRW-SPD an Macht verloren. Wann hat dieser Prozess eingesetzt? Mit dem Verlust der absoluten Mehrheit 1995 oder schon früher?
Das kann ich schwer beantworten, ich bin ja erst seit 1994 in der Politik.
Ist das nicht ein Nachteil gegenüber Rüttgers, der seit Jahrzehnten im Geschäft ist?
Natürlich muss ich noch lernen. Aber das kann ich.
Nehmen es Ihnen Ihre Parteikollegen manchmal übel, dass Sie als Späteinsteigerin nicht die übliche lange SPD-Karriere haben?
Ich bin nie angetreten und habe gesagt, ich will Berufspolitikerin werden. Wenn mir das einer erzählt hätte, den hätt‘ ich für bekloppt erklärt. Aber es gibt nicht so viele, die in meinem Unterbezirk mehr Plakate geklebt und an mehr Wahlkampfständen gestanden haben als ich.
Braucht man diese Ochsentour noch, um in der NRW-SPD etwas zu werden?
Gott sei Dank, ja. Wenn ich da nicht so geerdet worden wäre, könnte ich keine gute Politik machen.
Gibt es in Ihrer Partei keine Leute, die Ihnen vorwerfen, dass Sie nie bei den Jusos aktiv waren?
Ich nehme manchmal an, dass es die gibt. Aber erst in der vergangenen Woche hat mir ein älterer Parteifreund ein schönes Kompliment gemacht: Ich hätte den Jusos gut getan, hat er mir bei einem Bier gesagt. Das war schön, weil das jemand war, von dem ich das nicht erwartet hätte.
Wenn nicht die Jusos – wer hat Sie politisiert?
Ich bin politisch erzogen worden, komme aus einer Arbeiterfamilie. Mein Vater war Straßenbahnfahrer, meine Mutter Schaffnerin. Wir haben früher Bundestagsdebatten im Fernsehen geguckt und diskutiert. Für mich war die größte SPD-Errungenschaft immer Bildung und Bafög. Das war der Grund, weshalb ich an die Uni konnte. Deshalb bin ich beim Thema Studiengebühren auch so leidenschaftlich.
Sie haben in England zur Zeit von Maggie Thatcher studiert. Hat Sie das beeinflusst?
Schon. Ich habe dort eine Gesellschaft erlebt, in der die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander ging als bei uns. Ich habe in London Leute auf der Straße verhungern sehen. Das ist etwas, was ich nicht haben will hier in Deutschland.
Angela Merkel ist vor der Bundestagswahl oft mit Maggie Thatcher verglichen worden. Was halten Sie davon?
Nichts.
Und vom Vergleich Merkel-Kraft? Sie sind beide Späteinsteigerinnen, beide Frauen...
Merkel und ich? Auf den Vergleich bin ich noch nie gekommen. Was an der Späteinsteiger-These stimmt: Ich kann nicht von mir sagen, dass ich wie so viele in der Partei wegen Willy Brandt oder Helmut Schmidt in die SPD eingetreten bin. Dafür bin ich zu jung. Aber ich kann mit meiner Biografie Arbeitnehmerinteressen vertreten, weil ich Betriebsratsvorsitzende war. Ich bin Intellektuelle als jemand, der studiert hat. Ich bin Frau, ich vertrete Familieninteressen. Und ich kann auch 60 plus vertreten, weil ich mein Leben ohne meine beiden Omas auch nicht so führen könnte, wie ich es tue. Was ich darstellen kann, ist, dass es bei der SPD keine Schubladen mehr gibt.
Können Sie es sich vorstellen, 2010 als Spitzenkandidatin anzutreten?
Das ist überhaupt nicht auf meinem Bildschirm. Jetzt will ich es schaffen, meine Fraktion gut aufzustellen, die Abteilung Attacke nicht zu vernachlässigen, aber auch neue Inhalte und Positionen zu erarbeiten. Ich nenne das immer Profilbildung.