piwik no script img

Archiv-Artikel

Menschliches Vermögen wird vergeudet

Es ist nicht verwunderlich, wenn sich SchülerInnen nicht um das Lernen scheren. In vielen Hauptschulen haben sie überhaupt keinen Anreiz, sich zu bemühen. Weder Schule noch Umgebung eröffnen ihnen eine Perspektive. Plädoyer für die Abschaffung der frühen Auslese im deutschen Schulsystem

„Vielen Jugendlichen, die das Zeug zu guter Ausbildung hätten, wird der Weg dorthin schon im Kindesalter verbaut“

VON LUDGER WÖSSMANN

Non scholae, sed vitae discimus – nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir! Dies führen Lehrer seit je zur Motivation ihrer Schüler an. Aber was, wenn alles in ihrer Umgebung den Schülern zu sagen scheint, dass das einfach nicht stimmt? Wenn weder Eltern noch Bekannte Arbeit haben, wenn niemand in der Familie morgens um acht Uhr irgendwo sein muss, wenn die Familie solange man denken kann leidlich von Sozialhilfe lebt? Wenn die wichtigsten Vorbilder wie Stars, Schauspieler, Sänger und Sportler ihr großes Geld ganz sicher nicht aufgrund ihrer hohen Bildung machen? Dann kann man es keinem vernünftigen Menschen verdenken, wenn er sich das Sprichwort so herum denkt, wie es der alte Seneca tatsächlich geschrieben hat: Non vitae, sed scholae discimus – und dafür ist die Zeit und Mühe dann doch zu schade.

Wenn Schüler keinen Anreiz haben, sich in der Schule zu bemühen, und weder Schule noch Umgebung ihnen eine Perspektive eröffnen können, dann ist es nicht verwunderlich, wenn sie sich um das Lernen einen Dreck scheren. Darin liegt wohl der Kern der Vorfälle an der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln, die eine erneute Diskussion um die Struktur des Schulsystems, um Integration und Gewaltprävention entfacht haben. Gleichzeitig nutzen einige politische Kommentatoren die Vorfälle, um eine Gewaltdebatte mit der Forderung drakonischer Strafen zu führen, die der ökonomischen und bildungspolitischen Dimension des Problems nicht gerecht wird.

Jenseits der Probleme der speziellen Schule sollten wir nämlich in der Tat das weiterreichende bildungspolitische Strukturproblem nicht aus den Augen verlieren. Jahr für Jahr verlassen über 8 Prozent der Absolventen die Schule ohne jeglichen Abschluss. Bei der internationalen Bildungsstudie Pisa lag der Anteil der 15-jährigen Schüler Deutschlands, die kaum über Mindestkompetenzen in Lesen und Rechnen verfügen, bei alarmierenden 22 Prozent. Und in so gut wie keinem anderen Land ist die Streuung der abgefragten Kompetenzen und Bildungserfolge so hoch wie hierzulande.

Was das für die Lebensperspektive der Betroffenen bedeutet, kann an einer einzigen Zahl veranschaulicht werden: Die Arbeitslosenquote von Männern im erwerbsfähigen Alter ohne mittlere Reife liegt in Deutschland bei 26,2 Prozent. Selbst mit mittlerer Reife, aber ohne Fachober- oder Berufsschulabschluss liegt die Arbeitslosigkeit noch bei über 20 Prozent, in Ostdeutschland sogar über 50 Prozent. Nach allen Prognosen wird sich diese Situation in Zukunft nur noch weiter verschärfen, da es in der sich entwickelnden Wissensgesellschaft immer weniger Nachfrage nach gering qualifizierten Tätigkeiten gibt.

Dagegen liegt die Arbeitslosenquote von Männern mit Berufsschulabschluss schon unter 8 Prozent und bei Universitätsabsolventen sogar unter 5 Prozent. Allein dieser Vergleich von Arbeitslosenzahlen sollte objektiv eigentlich einen erheblichen Anreiz darstellen, zumindest einen Berufsschulabschluss anzustreben. Doch wenn es im relevanten Umfeld niemanden gibt, der einen Ausweg vorführen könnte, sondern stattdessen so gut wie alle in der Bezugsgruppe arbeitslos sind, dann lautet die relevante Perspektive: Arbeitslosigkeit. So antwortete auf der Rütli-Hauptschule ein von seiner Lehrerin nach seinen Berufswünschen angesprochener Schüler: „Ey, Alte, ich will Hartz IV werden.“

Eine solche Perspektivlosigkeit für weit reichende Bevölkerungsgruppen kann sich keine Gesellschaft leisten. Natürlich nicht aus Sicht der Menschenwürde, aber auch nicht in rein ökonomischer Sicht. Die volkswirtschaftlichen Kosten einer solchen Verschwendung menschlichen Vermögens sind – gerade in einer Gesellschaft, die auf materiellen Ausgleich bedacht ist – schlichtweg nicht zu tragen. Um den negativen Kreislauf der Perspektivlosigkeit zu durchbrechen, sind daher sicherlich weitere Reformen auf dem Arbeitsmarkt, im Sozialversicherungssystem und in der Immigrations- und Integrationspolitik notwendig.

Aber den wohl viel versprechendsten Ansatzpunkt bietet die Bildungspolitik: Wenn es gelingt, im Schulsystem ein möglichst hohes Maß an Chancengleichheit herzustellen, bedarf es nicht eines exzessiven Sozialstaates, der versucht, Ungleichheit im Nachhinein auszugleichen. Ein allzu umfangreicher Sozialstaat ist nicht nur teuer, sondern auch leistungsfeindlich. Er senkt den Anreiz zu arbeiten, weil das ohne Arbeit zu erzielende Einkommen nahe am erzielbaren Arbeitslohn liegt. Die hohe deutsche Arbeitslosigkeit und das unbefriedigende volkswirtschaftliche Wachstum haben nach weitläufiger ökonomischer Meinung genau in diesem anreizfeindlichen Sozialstaat ihre zentrale Ursache.

Ein wichtiger Bestimmungsgrund für die geringe Chancengleichheit und mangelnde Perspektiven im Schulsystem liegt in dem frühen Alter der Selektion des deutschen Schulsystems. Wie umfangreiche empirische Studien des ifo-Instituts anhand mehrerer internationaler Schülerleistungstests ergeben haben, tendieren Schulsysteme mit früher Aufgliederung der Schüler in verschiedene Schularten dazu, herkunftsbedingte Unterschiede in den Schülerleistungen noch zu verstärken.

Internationale Vergleiche zeigen deutlich, dass eine frühe Mehrgliedrigkeit des Schulsystems systematisch zu einer stärkeren Leistungsstreuung und zu einer stärkeren Abhängigkeit der Schülerleistungen vom familiären Hintergrund beiträgt, ohne das durchschnittliche Leistungsniveau anzuheben. So liegt die Leistungsungleichheit deutscher Schüler am Ende der Grundschule noch unter dem internationalen Durchschnitt. Erst am Ende der Mittelstufe, nach der international überaus frühen Aufgliederung des deutschen Schulsystems, liegt die Leistungsungleichheit der deutschen Schüler an der internationalen Spitze. Die frühe Versammlung von Kindern mit bildungsfernem Hintergrund in abgesonderten Schulen scheint eine Perspektivlosigkeit zu befördern, die dem Erlernen der in Pisa gemessenen Basiskompetenzen ganz erheblich schadet.

Es sei darauf hingewiesen, dass es bei dieser Bewertung nicht um die in Deutschland anzutreffende Gesamtschule geht, die sich leistungs- und kostenmäßig eher als abschreckendes Vorbild erwiesen hat. In Deutschland ist die Gesamtschule ja noch neben die vorhandenen Schularten getreten und hat damit die Selektivität des Systems quasi nur noch verstärkt. Stattdessen muss es um eine Verringerung der frühen Selektion gehen.

Auch sei angemerkt, dass die Hauptschule durchaus nicht überall in Deutschland zu einer perspektivlosen „Restschule“ verkommen ist. So tragen etwa in Bayern hohe Leistungsstandards und ein Hauptschulanteil von über einem Drittel der Schüler dazu bei, dass viele Hauptschulabsolventen ansprechende Arbeitsmarktperspektiven haben. Aber insgesamt scheint in Deutschland zu vielen Jugendlichen, die ihren Begabungen nach das Zeug zu einer guten Berufs- oder sogar Hochschulbildung hätten, der Weg dorthin schon im Kindesalter weitgehend verbaut zu werden. Dadurch erzeugt man Perspektivlosigkeit und Frustrationen, die sich leicht auch in Gewaltbereitschaft steigern können.

Es lohnt, sich daran zu erinnern, wodurch die derzeitige Diskussion ausgelöst wurde – nämlich durch den Brief der Lehrerschaft der Rütli-Schule. Darin heißt es: „Welchen Sinn macht es, dass in einer Schule alle Schüler/innen gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen, um ihr Leben sinnvoll gestalten zu können?“ Diese Frage wird derzeit von kaum einem politischen Kommentator beantwortet.

Der Autor ist Leiter des Bereichs „Humankapital und Strukturwandel“ des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung