: „Knast ist pervers“
INTERVIEW SABINE AM ORDE UND CHRISTIAN FÜLLER
taz: Haben Sie Angst seit dem Kollaps der Berliner Rütli-Schule, Frau Erdsiek-Rave?
Ute Erdsiek-Rave: Angst vor Schülern oder Lehrern, oder was meinen Sie?
Angst davor, dass auch bei Ihnen Lehrer sagen: Wir können nicht mehr.
Jeder Bildungsminister hat Furcht davor. Ich habe alle Schulräte gebeten, noch mal genau hinzuschauen. Ich will wissen, wie Problemschulen mit dem Thema Gewalt umgehen und welche zusätzlichen Ressourcen sie jeweils erhalten. Ich lasse mir sagen, welche Netzwerke existieren und wie Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit den Eltern angegangen werden. Es mangelt ja nicht an guten Beispielen. Nur wird das noch nicht an allen Schulen wirklich gelebt. Aber, wissen Sie, ich bin vor allem sauer.
Worüber?
Ich ärgere mich über bestimmte Schlagzeilen – auch bei Ihnen. Über all diese Forderungen, Hauptschüler auszuweisen oder Hauptschulen einfach aufzulösen. Es geht nicht nur darum, dieses Milieu aufzulösen. Wir müssen anfangen, die Schule neu zu denken und einen sehr viel grundsätzlicheren Ansatz dabei zu finden. Die derzeitige Debatte bringt uns nicht nach vorn.
Zeit, dass sie geführt wird.
Aber nicht so. Wir kommen in einen Teufelskreis wechselseitiger Schuldzuweisungen. Deswegen nehme ich die Lehrer der Problemschulen in Schutz. Weil sie einen harten Job machen – und oft einen guten.
Ist es nicht so, dass die Debatte instrumentalisiert wird? Jörg Schönbohm fordert, auffällige Schüler zur Abschreckung ins Jugendgefängnis zu stecken.
Da wird Wasser auf Mühlen gelenkt, die man gern mal wieder in Gang setzen will. Da will jemand absahnen mit der provokativen Frage, ob es nicht viel zu viele Ausländer gibt oder die falschen. Das ist von vorgestern, Themaverfehlung. Wir müssen die Schulen besser machen und nicht ihre Schüler denunzieren.
Schönbohm ist immerhin Innenminister in Brandenburg.
Ich finde es trotzdem unverantwortlich, dass das alte, falsche Motto von Integrationspolitik und Bildungspolitik wieder hervorgekramt wird.
Welches meinen Sie?
Das furchtbare Raus-Thema. Wer hier angeblich nicht reingehört, der muss raus. Aus der Schule oder gleich aus dem Land. Wenn ein Schüler nicht ins Gymnasium passt, dann muss er in die Realschule. Passt er da nicht, muss er in die Hauptschule oder in die Förderschule. Und unter der Förderschule gibt es immer noch das Erziehungsheim. Oder den Schnupperknast – etwas Perverseres kann einem nicht einfallen, wenn es um junge Menschen und Kinder geht.
Was stört Sie daran so?
Die schreckliche Mentalität, Kinder und Jugendliche nicht anzunehmen, sondern abschieben und aussondern zu wollen. Damit muss endlich Schluss sein. Ich stehe da ganz auf der Seite des Berliner Bildungssenators Klaus Böger, der im Bundestag gesagt hat: Diese Kinder gehören zu uns! Wir müssen ihnen endlich Chancen geben.
Edmund Stoiber will Kinder, die kein Deutsch können, nicht mehr in die Regelschule lassen.
Ich bin sehr für Sprachtests und für frühe, auch verpflichtende Sprachförderung. Aber ich bin dagegen, diese Schüler ständig als defizitär hinzustellen. Das sind Kinder, die etwas ganz Großartiges leisten, indem sie schon vor der Schule eine zweite Sprache lernen. Warum sollen diese Kinder dafür bestraft werden, indem wir sie aussondern? Wir bereiten ihnen damit schon am Beginn ihres Bildungswegs die erste Demütigung. Das ist pädagogisch falsch und fatal für das Selbstbewusstsein. Sechsjährige merken genau, wie man über sie spricht und mit ihnen umgeht.
Erlaubt es das Grundgesetz, ein Kind an der Einschulung zu hindern?
Wir müssen diese Kinder selbstverständlich einschulen. Es herrscht hier Schulpflicht. Das bezieht sich nicht allein auf die Eltern. Der Staat gibt damit auch das Versprechen ab, diesen Kindern etwas beizubringen. Wo sollen sie es denn lernen, wenn nicht in der Schule?
Friedbert Pflüger von der CDU, der in Berlin Bürgermeister werden will, sagt: „Berlin ist Kriminalitätshauptstadt, denken Sie an den Polizistenmord oder an die Zustände in der Neuköllner Rütli-Schule.“
Das ist Stimmungsmache ziemlich übler Art. Man kann die Zustände an der Rütli-Schule nicht mit dem Mord an einem Polizisten in einen Topf werfen.
Selbst Ihre Vizepräsidentin in der KMK, Karin Wolff, fordert, ausländische Schüler im Extremfall auszuweisen. Vertritt Frau Wolff da KMK-Politik?
Nein, sie referiert hessische Bildungspolitik. Ich weiß auch gar nicht, wohin sie die Schüler ausweisen will? Viele Kinder nicht deutscher Herkunft haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Ich finde, das ist eine Drohgebärde und eigentlich eine bildungspolitische Kapitulation.
Wollen Sie die KMK zu einer Sofortsitzung einzuberufen?
Es gibt keine Eilbefassungen der KMK dieser Art. Das Thema steht ohnehin auf der Tagesordnung der nächsten Sitzung. Seit der ersten Pisastudie geht es doch darum, wie der Bildungsweg von Migrantenkindern aussieht, wie die Lage im Schulsystem ist – und wie wir sie verbessern können. Der erste bundesweite Bildungsbericht, der im Juni vorgelegt wird, hat den Schwerpunkt „Situation von Migrantenkindern“.
Sie werden nicht klarstellen, was verfassungsrechtlich geht – und was nicht?
Nein, ich bin nicht die Oberlehrerin von Herrn Stoiber oder Herrn Pflüger. So verstehe ich mein Amt nicht. Ich sage sehr wohl, was ich davon halte. Aber als Präsidentin beschränke ich mich darauf, die KMK zu koordinieren. Wir beraten Leitlinien, jedes Land gestaltet die dann in eigener Verantwortung.
Die Schulen fördern Migranten offenbar zu schlecht und zu wenig. Warum?
Man hat zu lange geglaubt, allein durch das gemeinsame Unterrichten von ausländischen und deutschen Kindern entstehe Sprachentwicklung. Die Haltung war ungefähr so: Die werden das schon lernen.
Wie kann man das verbessern?
Indem man die Verpflichtung eingeht, wirklich jedes Kind zu fördern. Das ist weder in den Köpfen noch im System verankert. Erst die Debatte darüber, dass wir innerhalb eines Jahrgangs in Zukunft viel mehr qualifizierte Arbeitnehmer brauchen, hat die Aufmerksamkeit für Lernschwächere und auch für Migrantenkinder steigen lassen. Nur ist das immer noch zu abstrakt. Wir müssen das auch umsetzen in den pädagogischen Alltag. Deshalb müssen Schulen in Schleswig-Holstein künftig ein Förderkonzept für ihre Schüler entwickeln. Individuelle Förderung ist die Philosophie unseres neuen Schulgesetzes. Aber die Fehler haben ja nicht allein die Schulen gemacht.
Sondern?
Wir haben es zugelassen, dass es in bestimmten Stadtteilen Problemkonzentrationen gibt: Arbeitslosigkeit, hoher Migrantenanteil, Verwahrlosung.
Was raten Sie Pädagogen, die dort unterrichten?
Die Kollegien brauchen professionelle Schulung und Unterstützung. Wir müssen sie vorbereiten, ihnen mit Konfliktmanagement und Deeskalationsstrategien helfen.
Wer sind die kritischen Gruppen?
Vor allem viele pubertierenden Jungen mit Migrationshintergrund, die ein archaisches Wertesystem in ihren Familien erleben. Die bringen ein problematisches Verständnis von Frauen als Freibrief, gerade Lehrerinnen zu sagen, dass sie ihnen gar nichts zu sagen hätte.
Was können Lehrer tun?
Pädagogen brauchen mehr interkulturelles Wissen. Die sollten wissen, warum verhalten die Jungs sich eigentlich so? Warum sind die mir gegenüber so aggressiv? Wer nicht weiß, was das für ein kultureller Hintergrund ist, empfindet das als Aggression gegen sich als Person. Wer an Schulen mit 60 bis 80 Prozent Zuwandererkindern lehrt, muss anders ausgebildet werden als die Lehrer an einer Schule im Kieler Mittelstand.
Braucht man mehr Lehrer mit Migrationshintergrund?
Das ist eine beliebte Forderung, und mir ist jeder dieser Lehrer herzlich willkommen. Aber es gibt doch viel zu wenige davon.
Wenn man das Rollenmodell nicht hat, dann muss man es vielleicht schaffen? Durch eine Migrantenquote in den Kollegien zum Beispiel.
Wir leben doch nicht in der DDR, wo man einen Plan aufstellt und sagt x Prozent sollen Migrantenlehrer sein wie damals die Arbeiter- und Bauernsöhne. So geht es nicht. Ich versuche die Migrantenkinder zu ermuntern, wo ich kann. Aber es ist ein langer Prozess, der da beginnt.
Ist denn für die Kinder mit Migrationshintergrund, die sich jetzt an den Hauptschulen befinden, noch etwas zu retten?
Ich bin Optimistin, sonst könnte ich meinen Job nicht machen. Der Kollaps in der Rütli-Schule muss auch diejenigen aufrütteln, die als Unternehmer oder Menschen aufmerksam Bildung und Schule beobachten.
Die Rütli-Schule hat einen Unternehmer, der gerade mit einer Patenschaft beginnen wollte. Er will dabei bleiben.
Das freut mich. Das ist es, was Schulen brauchen. Partner und Paten, die Schülern eine Perspektive geben. Dass sie merken, da interessiert sich jemand für uns.
Wie gehen sie in Schleswig-Holstein mit der negativen Mischung von Hauptschulen um?
Wir haben lange vor dem Rütli-Fall eine neues Schulgesetz auf den Weg gebracht. Sein Grundgedanke ist, dem sozialen auseinander Driften der Gesellschaft entgegenzuwirken. Unter anderem soll längeres gemeinsames Lernen helfen, dass alle Begabungen sich optimal entwickeln. Wir machen das auch aus ganz pragmatischen Gründen. Als Flächenland tun wir uns aufgrund der demografischen Entwicklung schwer, die vielen Schularten in ihrer Eigenständigkeit überhaupt noch zu erhalten. Daher sollen künftig Gemeinschaftsschulen auf Antrag der Schulträger entstehen können. Mein Ziel ist es, dass diese langfristig zum Regelfall werden.
Macht denn die CDU da mit?
Im Land diskutieren wir noch. Aber selbst CDU-regierte Kommunen denken ganz pragmatisch über die Gemeinschaftsschule nach. Es freut mich, dass an der Basis die ideologische Abrüstung in dieser Frage längst begonnen hat. Nur die spin doctors in den Parteispitzen und die Wahlkämpfer benutzen die soziale Situation an den Schulen noch zur Stimmungsmache. Ich finde: Damit sollen wir jetzt mal aufhören.