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Archiv-Artikel

Roll, roll, roll forever!

ROLLER DERBY Die Rempelröcke der Stuttgart Valley Rollergirlz empfangen zu ihrem Roller-Derby-Saisonauftakt die Berlin Bombshells

Auch in Deutschland wächst die Szene, trotz Verbot in den meisten öffentlichen Hallen

VON VALERIE POGODDA

Begonnen hat es mit einem Plakat in einer Stuttgarter Punk-Kneipe, auf dem für eine neue aggressive Rollschuhsportart für Frauen geworben wurde. „Wir sind zu diesem Info-Abend gegangen und waren sofort Feuer und Flamme“, erzählt Polly Purgatory. Wir schreiben das Jahr 2006, als der Startschuss für die Gründung des ersten deutschen Roller-Derby-Vereins fiel: die Stuttgart Valley Rollergirlz. Das Tolle an Roller Derby ist, sagt Polly Purgatory, „dass du athletisch und trotzdem weiblich sein kannst“. Roller Derby ist eine Vollkontaktsportart, „bei der du nicht gleich auf die Kugelstoßer-Schiene geschoben wirst“.

Polly Purgatory und die Stuttgart Valley Rollergirlz mussten „ganz klein anfangen“. „Wir haben uns Rollschuhe besorgt und abends illegal in einem Parkhaus trainiert, später in einer Diskothek“, sagt sie. Und das sei ziemlich gefährlich gewesen. „Der Club war in einer umgebauten Lagerhalle, mit Stahlverstrebungen in der Mitte, einer riesigen Bar und viel zu wenig Platz, da gab es einige schlimme Verletzungen.“

Zuerst startet das Pack

Polly Purgatory, 31, tritt in der Öffentlichkeit ausschließlich unter ihrem Kampfnamen auf. Sie ist aktive Spielerin, war vier Jahre lang im Vorstand und kümmert sich um die Pressearbeit der Rollergirlz. In ihrem bürgerlichen Leben hat sie gerade ihr Magisterstudium in Anglistik und Geschichte abgeschlossen.

Aus den anfangs sieben Frauen ist ein Verein mit knapp 50 Frauen geworden. Der Stuttgart Valley Rollergirlz e. V. ist der erste Roller-Derby-Verein, der sich in Deutschland gründete. Seit diesem Jahr gibt es neben der ersten Mannschaft, den SVRG All-Stars, auch ein Rookie-Team für Neueinsteigerinnen. Derzeit gibt es acht Roller Derby Teams in ganz Deutschland, von denen allerdings erst drei wirklich turnierfähig seien, so Polly Pugatory. Der erste innerdeutsche Bout – so nennt sich der Wettkampf – fand letztes Jahr in Berlin statt. Die Berlin Bombshells traten dabei gegen die Stuttgart Valley Rollergirlz an. Nun kam es zum Rückspiel in Stuttgart.

Kurz vor dem Training sitzt Polly in einem Sportzentrum auf einer Treppenstufe vor der Halle. Sie trägt eine schwarze Strumpfhose, knappe grüne Shorts und ein enges Trikot mit dem schwarz-weiß-pinken Logo der Rollergirlz. Knie, Ellbogen und Handgelenke sind mit Protektoren geschützt. Zwischen T-Shirt und Ellbogenschoner ist eine bunte Tätowierung zu sehen, auf der sich ein Pin-up-Girl räkelt, die pink gefärbten Haare trägt sie zurückgebunden.

Provokante und martialische Kampfnamen wie Polly Purgatory, Blitzkrieg Baby oder Noxious Angel sowie eine reichliche Prise Punkrock-Attitüde gehören zu Roller Derby genauso dazu wie Rollschuhe, Helme und Zahnschutz. Rempeleien und spektakuläre Stürze, blaue Flecken und Prellungen sind keine Seltenheit.

Die Grundzüge des rasanten Spiels sind schnell erklärt: Zwei Teams treten in einem ovalen Kurs gegeneinander an. Ein Bout geht über zwei Halbzeiten à 30 Minuten, die in 2-minütige Jams untergliedert sind. Nur eine Spielerin pro Mannschaft, die Jammerin, kann Punkte erzielen. Ihr Ziel ist es, die gegnerischen Fahrerinnen möglichst oft zu überrunden. Zuerst startet das „Pack“: Blockerinnen, die versuchen, die Bahn für die nachkommenden Gegnerinnen zu sperren. Die kurz nach den Packs startenden Jammerinnen versuchen wiederum, schnell die Blockerinnen des gegnerischen Teams zu passieren und so ab der zweiten Überrundung Punkte zu sammeln.

Um das zu verhindern, ist eine gute Taktik nötig – und jede Menge Körpereinsatz: harte Bodychecks, der Einsatz von Schultern und Hüften sind erlaubt, um die Gegnerinnen von der Bahn zu drängen oder zu Sturz zu bringen. Ellenbogenschläge, festhalten und Bein stellen sind hingegen verboten und werden mit Zeitstrafen sanktioniert.

Bei den letzten Trainingseinheiten vor dem Bout herrscht konzentrierte Stimmung. Markierungen auf dem Hallenboden zeigen die Bahn bzw. den Track an, im Hintergrund fahren zwei Anfängerinnen hin und her, lassen sich auf ihre Knie fallen oder üben in voller Fahrt Sprünge. Auf dem Track kreisen knapp zwanzig Fahrerinnen eng gedrängt in Formation. Immer wieder scheren einzelne aus, sprinten, überholen den Pulk und ordnen sich vorne wieder ein. Später wird der Jammer-Start geübt und noch einmal besprochen, wann es taktisch sinnvoll ist, als Lead-Jammerin einen laufenden Jam abzubrechen, um der gegnerischen Jammerin das Punkten zu erschweren.

Punk und Camp

Etliche englische Sprachfetzen sind zu hören. „Hier gibt es relativ viele Amerikanerinnen“, sagt Polly, Spielerinnen, die in den USA schon aktiv waren und sich jetzt in einer der 17 europäischen Ligen engagieren. In den USA hat Roller Derby eine lange Tradition. Erstmals ins Leben gerufen wurde die Sportart 1935, als Profisport, der von Promotern veranstaltet wurde und erst mit der Zeit von einem Ausdauerrennen in einen Kontaktsport mit Bodychecks und Schubsereien umgewandelt wurde. Ab den 1940er-Jahren wurden die Derby-Contests zu Publikumsmagneten, die in großen Hallen mit bis zu dreißigtausend Zuschauern ausgetragen wurden. Anders als heute traten gemischtgeschlechtliche professionelle Teams an, die mit der Show von Stadt zu Stadt reisten.

Wie bei Wrestling standen die Ergebnisse häufig vor Beginn fest, im Vordergrund stand das Spektakel. Die Ölkrise 1973 und die ins Schlingern geratene Wirtschaft erschwerten dann aber die Reisen der Teams und führten letztlich zum Zusammenbruch des Roller-Derby-Geschäftsmodells. Roller Derby verschwand aus den großen Hallen.

Erst zur Jahrtausendwende kam es zu einem Revival: Roller Derby mutierte zu einem reinen Frauensport, auf Amateurbasis und mit einem stärkeren Fokus auf Sportlichkeit, Punk-Ästhetik mit Camp-Elementen. Aus einer weiblichen Bierlaune heraus entwickelte sich in den USA eine große und ausdifferenzierte Szene. Eigene Zeitschriften wie das Blood & Thunder Magazine existieren und seit 2004 gibt es die Women’s Flat Track Derby Association (WFTDA), die landesweite Wettkämpfe ausrichtet.

Als stärkstes europäisches Team gelten derzeit die London Rollergirls. Doch auch in Deutschland wächst die Szene, trotz Vereinsrecht und Rollsport-Verbot in den meisten öffentlichen Hallen. Am Anfang stand bei Roller-Derby „der Rock-’n’-Roll-Gedanke und Punkrock“, so Pugatori. Doch langsam würden die Teams „professioneller und auch sportlich wächst der Ehrgeiz“. Dennoch ist ihr das Egalitäre und der Do-it-yourself-Gedanke weiter wichtig. So könne prinzipiell jede ein Rollergirl werden, auch wenn es mit den vorhandenen Rollschuh-Künsten nicht so weit her sei. „Zu uns kommen viele Frauen, die sich in klassischen Sport-Vereinsstrukturen nicht wohl fühlen, von unserem Lifestyle und Individualismus angesprochen werden.“

In ihrem bürgerlichen Leben hat sie gerade ihr Magisterstudium in Anglistik und Geschichte abgeschlossen

Und so mischen sich bei den Wettkämpfen Frauen mit gerade geschnittenen Betty-Page-Ponys unters Publikum, gegelte Tollen und großflächige Tattoos sind genauso zu sehen wie Hipster aller Altersstufen, aber auch unauffällig aussehende Menschen. Punkrock dröhnt aus den Boxen, bunte Scheinwerferlichter tanzen über den Boden, viele Zuschauerinnen halten Bierflaschen in den Händen.

Trikots mit Schleifen

Polly Purgatory hat ihre grünen Shorts gegen schwarze getauscht, auf denen hinten in großen Lettern „Eat This!“ prangt. Die anderen Rollergirlz tragen ebenfalls schwarze Shorts oder Miniröcke, kombiniert mit pinken Leggins oder zerrissenen Netzstrümpfen, manche Trikots sind mit Schleifen geschnürt. Die Berliner Bombshells erscheinen hingegen in grauen Trikots und grauen Miniröcken, haben dafür aber Kriegsbemalung aufgelegt: schwarze Balken, weiße Gesichter, blutunterlaufene Augen und aufgemalte blutige Tränen.

Als der Bout losgeht, stürzen immer wieder Spielerinnen und rutschen ungebremst in die gepolsterte Bande. Einmal reißen zwei Blockerinnen einen Referee mit und alle drei landen im johlenden Publikum. Zwei Zuschauerinnen feuern Lady Rampage an: „Kick ass, go, go, go!“ Zwischen den Runden reckt die „Score Whore“ eine Tafel mit den Zwischenständen in die Höhe. Blitzkrieg Baby, eine der kleinsten Spielerinnen, drängelt sich an zwei kräftigen Blockerinnen der Bombshells vorbei. Vor allem in der ersten Halbzeit ist das Spiel heftig umkämpft, weshalb viele Zeitstrafen anfallen, der Moderator kommentiert: „Dolly BustHer war viermal nicht artig und muss auf die Strafbank.“

Polly führt in einer Runde, kommt ins Straucheln, stürzt, rutscht vom Track und schlägt sich dreimal auf die Hüften, um mit diesem Zeichen den Jam abzubrechen. Danach rappelt sie sich wieder auf, schüttelt verärgert den Kopf und fährt zurück zur Startlinie. Obwohl vor allem Master Blaster für die Bombshells Punkt für Punkt erkämpft, gewinnen am Ende die Stuttgart Rollergirlz mit 125 : 68. Schon die letzten Spielminuten geraten zum Schaulaufen. Das Stuttgarter Publikum jubelt und pfeift.

Polly lacht auf dem Weg zur Afterbout-Party: „Im Prinzip läuft das alles noch unter Freundschaftsspiel, deswegen gilt auch das Motto: Feind auf dem Track, aber Freund nach dem Bout.“ Danach wieder Alltag: Am nächsten Tag muss sie sich auf ein Vorstellungsgespräch vorbereiten.