: Das Minarett in Duisburg-Marxloh
Es wäre falsch, die Bedeutung von Kultur und Religion für die Integration auszublenden. Doch die aktuelle Debatte krankt daran, dass sie sich zu sehr auf den Islam konzentriert
An die Stelle der Zuwanderungsdebatte ist die Integrationsdebatte getreten. Ganz unverkennbar konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit dabei auf die hier lebenden Muslime. Dies ist einerseits verständlich; denn an Kopftüchern und Minaretten wird der tief greifende Wandel, den die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten erfahren hat, unmittelbar sichtbar. Die Fixierung der Integrationsdebatte auf den Islam birgt andererseits aber auch die Gefahr von Fehlwahrnehmungen: Auf diese Weise verfestigt sich das Vorurteil, die vielfältigen Probleme und Aufgaben der Integration seien in erster Linie durch die „andersartige“ Religion und Kultur der Eingewanderten bedingt. Die Rolle sozialer Faktoren kommt dabei zu kurz.
Die Konzentration von Migrationsfamilien in bestimmten Vierteln von Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh und die daraus resultierenden Integrationsprobleme in Stadtvierteln und Schulen haben jedoch vor allem mit dem Wohnungsmarkt zu tun: Die im Durchschnitt finanziell schlecht gestellten Migrantinnen und Migranten siedeln sich dort an, wo der Wohnraum billig ist, während all diejenigen, die es sich leisten können, in gutbürgerliche Wohn- und Schulbezirke wegziehen. All dies ist bestens bekannt. Und doch erwecken etliche Debattenbeiträge den Eindruck, wir hätten es mit den Ergebnissen einer gezielten religiös-kulturellen Landnahme zum Zwecke der Errichtung einer islamischen „Parallelgesellschaft“ zu tun. Prozesse sozialer Segregation werden als kulturelle Eroberung gedeutet.
Ein weiteres Beispiel: Bürgerversammlungen, in denen sich der Widerstand mancher Altansässiger gegen Moscheebauprojekte Luft verschafft, sind typischerweise zugleich Foren sozialen Protests. Die Erbitterung, die man bei solchen Versammlungen erlebt, richtet sich regelmäßig auch gegen die Stadtpolitik, von der man sich schon lange im Stich gelassen fühlt. Dass nun zu allem Übel auch noch eine Moschee in der Nachbarschaft errichtet werden soll, ist dann der sprichwörtliche „Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“.
Wer lokale Konflikte um Moscheebauprojekte ausschließlich als Kulturkonflikte oder gar als Religionskonflikte zwischen Christen und Muslimen beschreibt, greift daneben. Es geht in den Auseinandersetzungen weit weniger um die Verteidigung des dreieinigen Gottes gegen die islamische Variante des Monotheismus als um die notorische Knappheit an Parkplätzen oder den alltäglich erfahrbaren Vandalismus.
Es wäre natürlich völlig falsch, Kultur und Religion in der aktuellen Integrationsdiskussion auszublenden. Selbstverständlich spielen sie eine Rolle. Zum Beispiel hängen die autoritären Familienstrukturen, wie sie in manchen Migrantenmilieus bestehen, ganz offenkundig mit kulturellen und religiösen Faktoren zusammen. In diesem Zusammenhang auf einschlägige Koranverse zu verweisen, reicht zur Erklärung aber nicht aus.
Traditionelle Geschlechterrollen, auch wenn sie religiös gestützt sein mögen, sind keineswegs unveränderlich, sondern entwickeln sich in Abhängigkeit von sozialen Rahmenbedingungen. So kann das Leben in einer westlich-modernen Metropole einerseits zur Liberalisierung von Familienstrukturen bei Migrantinnen und Migranten beitragen. Vor allem bei Modernisierungsverlierern kann es andererseits aber auch dazu führen, sich erst recht an überkommene Vorstellungen von „Mannesehre“ zu klammern – ein Phänomen, das sich übrigens auch bei manchen deutschen Hooligans beobachten lässt.
Die Fixierung der Integrationsdebatte auf den Islam führt nicht nur zu Fehlwahrnehmungen, sondern setzt auch problematische Signale für die praktische Politik. So besteht beispielsweise die Gefahr, dass der integrationspolitisch dringend gebotene Einsatz zugunsten verbesserter Chancen von Frauen und Mädchen aus Migrationsfamilien unter der Hand zum Kulturkampf gegen den Islam gerät. Dafür gibt es derzeit reichlich Anschauungsmaterial. Vor allem muslimische Frauen – gleich ob mit oder ohne Kopftuch – sehen sich zunehmend vor die Alternative stellt, sich entweder unablässig von ihrer Religion distanzieren zu müssen oder in Kauf zu nehmen, dass man sie pauschal als Opfer oder gar Komplizinnen autoritärer Familienstrukturen betrachtet. Gleichzeitig werden dadurch die Bemühungen all derjenigen muslimischen Frauen und Männer entwertet, die sich innerhalb ihres religiösen Milieus für mehr Geschlechtergerechtigkeit einsetzen.
Wenig durchdacht wirken auch manche integrationspolitisch motivierten Aufrufe zum „Dialog mit dem Islam“. Auf Dialog zu setzen, ist im Prinzip immer sinnvoll. Oft aber bleibt völlig unklar, um was es dabei gehen soll: um religiöse Werte, eine gemeinsame „Leitkultur“ oder Probleme der kommunalen Schulpolitik? Was ist die Grundlage des Gesprächs: das Grundgesetz oder das gemeinsame abrahamitische Erbe der monotheistischen Religionen? Heillose Verwirrung entsteht spätestens dann, wenn das Grundgesetz als vermeintlich exklusives Produkt der christlich geprägten Kultur dem Koran als der Quelle islamischer Werte entgegengesetzt wird. Auch das kann man in der aktuellen Debatte erleben. Der angemahnte Dialog hat dann die paradoxe Funktion, kulturelle Gräben zu überwinden, die zu diesem Zweck womöglich zuvor erst kategorial aufgeworfen werden. Der integrationspolitische Sinn solcher Übungen ist mehr als fragwürdig.
In eine merkwürdige Lage geraten durch all dies vor allem solche Menschen, die einen „islamisch klingenden Namen“ tragen, die sich aber nicht im Modus des Bekenntnisses zu religiösen Fragen verhalten möchten.
Dies ist keine kleine Gruppe, sondern vielleicht sogar die Mehrheit der hier lebenden Menschen „mit islamischem Familienhintergrund“. Die Fixierung der aktuellen Integrationsdebatte auf den Islam hat zur Folge, dass auch den Unfrommen, Gelegenheitsfrommen oder religiös Gleichgültigen unter der türkischen oder arabischen Migrationsbevölkerung von vornherein eine muslimische Identität zugeschrieben wird. Sie müssen infolgedessen erleben, dass sie in Talkshows und politischen Anhörungen durch die Vorsitzenden von Moscheegemeinden repräsentiert werden, mit denen sie vielleicht gar nichts zu tun haben möchten.
Während man in den Achtzigerjahren etwaige kulturelle Interessen der damaligen „Gastarbeiter“ noch kaum zur Kenntnis genommen hatte, hat man sich seit den Neunzigerjahren daran gewöhnt, die Migrationsbevölkerung vor allem in ihrer kulturellen „Besonderheit“ wahrzunehmen. Dies ist Fortschritt und Rückschritt zugleich.
Die falsche Ignoranz von damals ist mittlerweile durch eine ebenso falsche, weil einseitige Fixierung auf Kultur und Religion ersetzt worden. Ein bisschen weniger, aber dafür präziser über den Islam zu sprechen, wäre für die integrationspolitische Debatte sicherlich von Vorteil. Schließlich gibt es genug andere Probleme, die die Integrationspolitik in Angriff nehmen muss.
HEINER BIELEFELDT