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Archiv-Artikel

„Wissen vermitteln ist primitiv“

Millionen schauen seine Seminare auf Youtube. Michael Wesch, der Anthropologe des Web 2.0, über das Lernen

Michael Wesch

■ 34, ist kultureller Anthropologe an der Kansas State University. Nach zwei Jahren Erforschung indigener Kulturen im Regenwald Papua-Neuguineas widmete er sich den Effekten des Web 2.0.

INTERVIEW SEBASTIAN HIRSCH

Initial-4711taz: Herr Wesch, sehen Sie in Computern die Zukunft des Lernens?

Michael Wesch: Ja, ich glaube sogar, dass wir sie irgendwann direkt an den Kopf anschließen. Kleine Memorysticks, die für uns die Fakten verwalten.

Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.

Klar nicht. Wir beginnen eben erst zu verstehen, was Computer alles besser können. Wir sollten also aufhören, uns mit dem Zeug aufzuhalten, was die einfach besser draufhaben.

Was ist das?

Zum Beispiel vergeuden wir viel Zeit damit, unsere Studenten zum Auswendiglernen zu bringen. Und hinterher fragen wir diese Informationen in Examen wieder ab. Das muss aufhören!

Aber Fakten sind doch wichtig.

Ja, klar, man braucht sie. Nur sollten Studenten keine Fakten büffeln, sondern bedeutungsvolle Zusammenhänge herstellen können. Sie sollen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen erkennen. Das Erkennen und Lesen von Zusammenhängen ist die einzigartige Fähigkeit des Menschen. Sie zu stärken, ist die Aufgabe von Bildung.

Wie machen Sie das?

Wir versuchen, Studenten nicht als Informationsapparate zu benutzen. Ihre Fragen und ihre Sicht auf die Dinge sind wichtiger als der Vortrag des Dozenten.

Ist das eine Art Antilehre?

Man könnte es „Lehren als eine subversive Tätigkeit“ nennen. Das ist nicht von mir, sondern der Titel eines Buchs von Neil Postman und Charles Weingartner. Ich lese es zweimal im Jahr, um mir neue Energie zu holen für die Frage, worum es an der Uni eigentlich geht.

Das Buch greift abgelaufene Lehrmethoden an. Und schlägt vor, wie man Bildung für die Welt von heute wieder bedeutsam machen kann.

Und die haben das vor 40 Jahren geschrieben! Die haben schon damals gewusst, dass es gar keine neue Idee ist, wie man anders lernt. Wir können es um uns herum schon sehen.

Was passiert da draußen so Bedeutendes?

Es ist faszinierend, wie viele informelle Lerngelegenheiten rund um echte Probleme es im wahren Leben gibt. Wir sollten keine Zeit im Seminarraum vergeuden, wenn wir echte Probleme des Lebens thematisieren könnten. Ein Problem provoziert uns, es motiviert und zwingt uns, anders zu denken, neues Wissen zu testen, andere Wege zu gehen. In den Bildungsinstitutionen finden Sie das neue und informelle Lernen kaum.

Michael Wesch gibt sich im Seminar viel formeller, als man das erwartet. Und er hält tatsächlich eine Vorlesung – allerdings eine variierte. Er erzählt viele persönliche Geschichten. Und bindet die Studenten mit kollaborativen Elementen ein.

Warum hat sich an den Unis und Schulen im Umgang mit Wissen so wenig verändert?

Ein einfaches Umschalten ist nicht möglich, weil das System des Lernens große Trägheitsmomente in sich trägt. Das beginnt bei den physikalischen Strukturen. Die Lehrgebäude der Hochschulen und die Klassenzimmer diktieren uns, wie wir Sachen lehren und lernen. Dazu kommt die Bürokratie. Es ist nicht einfach, das alles neu zu organisieren. Am schwierigsten aber ist es, unsere Vorstellung, wie Lernen abläuft, zu verändern.

Wo ist das Problem?

Es ist diese grundlegende und falsche Vorstellung von Lehrern: Wie kriege ich mein Wissen in deinen Kopf? Ein Konzept, das Totenstille verursachen kann.

Das müssen Sie erklären.

Nichts nimmt mir so den Wind aus den Segeln wie der erste Vorlesungstag. Man kommt in den vollen Hörsaal. Man kann sein eigenes Wort kaum verstehen, weil alle miteinander reden und voller Energie sind. Aber plötzlich hat man absolutes Schweigen. In dem Moment, an dem ich ans Pult trete, ist es absolut still.

Das ist doch beeindruckend.

Ja, aber ich frage mich in dem Moment auch: Was hat ihre Seelen geholt? Was diszipliniert sie derart, dass ein kleines Männlein wie ich sie verstummen lässt? Wer hat ihnen das angetan? Ich sehne mich nach dem Tag, an dem sie nicht mehr verwirrt sind, wenn ich ans Pult trete. Das wäre großartig.

Warum ist es falsch, wenn Studenten über Ihr Wissen staunen?

Wissen zu vermitteln – das ist eine ziemlich niedrige und primitive Version von dem, was Lernen eigentlich sein könnte. Die wirklich großen Momente des Lernens haben nichts mit Memorieren, sondern mit Transformieren zu tun. Jeder aktive Prozess des Lernens geht mit der Zerstörung von Vorstellungen einher. Wenn du wirklich etwas Neues lernst, dann musst du die Mauern deiner bisherigen Gedankengebäude einreißen.

Wie geht das? Konfrontieren Sie Ihre Studenten mit neuen Technologien – oder setzen Sie sie unter die Urmenschen in Papua-Neuguinea?

Ja, das würde ich am liebsten machen! Aber im Ernst, Transformation ist eine gefährliche Sache. Und das macht es nicht gerade einfach, sie ins Seminar zu bringen.

Warum gefährlich?

Ich habe die Angst, die Vorstellung der Studenten zertrümmert zu haben – und das Seminar ist zu Ende. Wir haben ja nur 15 Wochen pro Semester.

Gibt es keinen Weg, die 15-Wochen-Frist auszutricksen?

Man kann es versuchen, ja, zum Beispiel mit Technologie. Sie hilft uns, Situationen zu kreieren, in denen informelles Lernen stattfindet – das es überall gibt und das keinerlei Grenzen kennt. Das ist das Gute an informellen Lernsituationen und Technologien. Superspannend, nur weit außerhalb unserer eingeübten Tagesabläufe und Lernroutinen.

Michael Weschs wichtigstes Seminar findet im Netz statt – auf YouTube. „The Machine Is Us/ing Us“ ist kein Mitschnitt einer Vorlesung, sondern eine Collage. Wesch schreibt in Handschrift, filmt Bildschirme beim Eingeben von HTML-Text und kombiniert das mit vielen anderen Online-Elementen. An diesem Seminar haben 11 Millionen Studenten teilgenommen – per Mausklick.

Technik ist was Feines – aber was ändern Sie im System selbst?

Wir experimentieren gerade damit, wie sich Studenten untereinander die Noten geben. Das klingt für viele Professorenkollegen sehr negativ. Ich finde, wir mobilisieren die Schwarmintelligenz fürs Notengeben. Sich gegenseitig zu benoten hat viele positive Effekte.

Zum Beispiel?

Sie müssen die Arbeit des anderen wertschätzen. Die Studenten teilen sich viel mehr mit, sie arbeiten härter und genauer. Denn sie müssen, wenn sie eine Note geben sollen, über viele Sachen nachdenken – genau über die Sachen, von denen wir wollen, dass sie sie reflektieren.

Sind die Noten denn gerecht?

26 von 200 Kommilitonen fühlten sich nicht korrekt benotet. Die habe ich nachkorrigiert, drei habe ich verbessert. Aber um die Ziffer der Note geht es gar nicht. Wichtig waren die neuen Lernprozesse, die plötzlich in Gang gesetzt wurden.

Was ist schiefgelaufen?

Es wurden Noten mit ganz falschen Begründungen vergeben. Daraus haben wir paradoxerweise am meisten gelernt.

taz-Labor Bildung

Der Kongress: An ihrem 31. Geburtstag blickt die taz nach vorn. Welche Unis wollen wir? Welche können wir uns leisten? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des taz-Labors am 24. April in Berlin. Die taz diskutiert mit Gästen wie Annette Schavan (Bildungsministerin), Julian Nida-Rümelin (Philosoph) und natürlich mit Ihnen, den Lesern. Mehr unter www.tazlab.de

Wie das?

Die Studenten haben gemerkt, dass sie jeden im Seminar auf ein bestimmtes Niveau bringen müssen. Sonst kapiert der andere Student ihre eigene Arbeit womöglich nicht – und gibt ihnen möglicherweise eine schlechte Note. Jeder muss also in die Lage versetzt werden, den Essay eines Kommilitonen einzuschätzen und zu bewerten.

Warum ist das so wichtig?

Wir versuchen, dass keiner hinten runterfällt, sondern in die Welt hinausgeht als einer, der etwas kann. Das ist ein Versuch, in der Klasse so etwas wie Gesellschaft, wie Realität herzustellen.

Sonst ist es nicht real?

Unter Unidozenten gibt es so einen Spruch von der „echten“ Welt. Dass die überall ist – bloß eben nicht im Seminarraum. Das ist doch bizarr! Und ein perfektes Beispiel dafür, wie sehr wir uns in unseren Lehrgebäuden vom wahren Leben da draußen abgekoppelt haben.

Kann man an Klischees die Fehler der Uni festmachen?

Ja, nehmen Sie ein anderes: Dozenten oder Lehrer sagen gern, sie gehen jetzt in ihre Klasse. Gerade so, als gehörte sie ihnen, als wäre es ihr privates Eigentum.

Michael Weschs Studenten im Seninar wissen, was Öffentlichkeit bedeutet. Sie stellen sich zusammen mit Wesch in einem YouTube-Video der ganzen Welt vor. Der Streifen ist zugleich eine Einführung in die Möglichkeiten von YouTube.

Was ist daran schlimm?

Das Seminar ist überhaupt nicht privat, ganz im Gegenteil. Wir haben im Seminar oder im Klassenzimmer einen gemeinsamen geteilten Raum. Das ist ein Segen und etwas Großartiges. Wir sollten wahrnehmen, welche Kreativität in diesem Raum steckt – und sollten nicht die Tür zumachen und denen jetzt irgendwelche Inhalte verfüttern.

Wie kann man das tun?

Eine meiner Kolleginnen sagt sich: „Okay, da gibt es einen bestimmten Korpus von Wissen, den muss ich vermitteln, aber warum sollte ich die wertvolle Zeit im Seminar dafür vergeuden?“ Also stellt sie ihre Vorlesung online und nutzt die Zeit in der Klasse ausschließlich, um Ideen zu teilen, mit jedem zu teilen, der da drin ist. Das heißt, die Studenten konsumieren nicht mehr. Sie sind die Experten, sie sind unser kreativstes Gut. Und wir wollen was von denen!

Aber wir hören doch seit Jahrzehnten, dass wir uns nicht mehr im Seminar zu treffen brauchen, weil es Chat oder Videokonferenz gibt.

Nein, die Qualität des Face-to-Face-Gesprächs ist online oder technologisch bisher noch nicht erreicht. Mal sehen, was noch kommt. Wir müssen den Seminarraum erst wieder neu verstehen. Die physische Realität, von Angesicht zu Angesicht jetzt Ideen auszutauschen, ist unvergleichlich.