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Archiv-Artikel

Heiratsboom dank Vogelgrippe

AUS ISTANBULJÜRGEN GOTTSCHLICH

Kürzlich verbreitete die halbstaatliche offizielle türkische Nachrichtenagentur „Anadolu Haber Ajance“ eine erstaunliche Nachricht. Darin hieß es, in den letzten Wochen herrsche auf den Standesämtern im Osten und Südosten der Türkei ein bislang ungekannter Andrang. Unter den Heiratswilligen seien auffallend viele Paare, die seit langem ohne offiziellen Trauschein zusammenleben würden.

Nun handelt es sich bei diesen Paaren nicht um Männer und Frauen, die ihre bisherige postmoderne nichteheliche Lebensgemeinschaft nun doch noch in eine bürgerlich sanktionierte Verbindung umwandeln wollen. Vielmehr leben diese ganz im Gegenteil in einer quasi vorbürgerlichen Ehe zusammen, die nicht vom Staat, sondern von Gott „legitimiert“ wurde. Anders ausgedrückt: Die Paare wurden nicht auf dem Standesamt, sondern vom örtlichen Iman getraut.

Dabei gilt in der Türkei bereits seit 1927 ein bürgerliches Gesetzbuch, in dem festgelegt ist, dass eine Ehe nur dann gültig ist, wenn sie vor einem Standesbeamten der Türkischen Republik geschlossen wird. Wie hartnäckig gesellschaftliche Strukturen sich dem Gesetz widersetzen können, zeigt die oben zitierte Meldung. Trotz jahrelanger staatlicher Kampagnen, in denen den Menschen nahe gelegt wurde, unbedingt ihre Ehe nicht nur vor Gott, sondern auch vor dem Standesbeamten zu vollziehen, wird in den Dörfern in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei, am Schwarzen Meer und in Zentralanatolien häufig immer noch lediglich vor dem Imam geheiratet.

Pure materielle Not

Den Männern im Dorf, sowohl dem Vater wie dem Bräutigam, reicht das – warum soll man sich da noch mit der staatlichen Bürokratie herumschlagen – und die Frauen haben meistens immer noch nichts zu sagen. Der Run auf die Standesämter hat dann auch weniger mit einem in jüngster Zeit eingesetzten männlichen Sinneswandel zu tun als vielmehr mit purer materieller Not. Den Anlass für die Heiratswelle bot, auf den ersten Blick kurioserweise, die Vogelgrippe.

Vier Kinder starben im Januar im Osten der Türkei an der Vogelgrippe, weil sie, nach übereinstimmender Meinung aller Mediziner, viel zu spät ins Krankenhaus gebracht wurden.

Den Zorn vieler Türken zog sich vor allem ein Familienvater aus einem Dorf bei Dogubeyazid zu, der einem Fernsehreporter gegenüber sagte: „Ja, wenn ich für die Behandlung meiner Tochter zahlen muss, bring ich sie nicht ins Krankenhaus. Das kann ich mir nicht leisten.“ Wie sich bald herausstellte, hatte das Kind keine Krankenversicherung und der Vater schlicht nicht das Geld, um eine stationäre Behandlung bezahlen zu können.

Für solche Fälle gibt es in der Türkei eigentlich eine großzügige Regelung, die den im Vergleich zu Westeuropa armen Staat jedes Jahr Milliarden Euro kostet: Wer selbst kein Geld für eine medizinische Behandlung hat, kann bei der Stadtverwaltung eine so genannte Grüne Krankenkarte beantragen, mit der dann der Staat die Kosten übernimmt.

Ein Mann, der für seine Frau oder sein Kind eine solche Grüne Karte beantragen will, bekommt den kostenlosen Krankenschein nur, wenn er nachweisen kann, dass er mit der Frau verheiratet ist oder das Kind sein eheliches Kind ist. Damit schloss sich der Kreis: Nachdem die Angst vor der Vogelgrippe das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer gesundheitlichen Absicherung geschärft hatte, setzte der Andrang bei den Standesämtern ein.

Der Koran und die Vielehe

Der Chef des Standesamtes der osttürkischen Stadt Erzerum berichtet, viele Paare kämen tatsächlich erst dann, wenn bereits eine Notsituation eingetreten ist. „Männer, die jahrelang gegen eine offizielle Heirat waren“, erzählt Levent Celebi, „kommen aufgeregt zum Standesamt, wenn ihre Frau oder eines ihrer Kinder krank wird. Meine Frau liegt im Krankenhaus, sagen sie, ich kann die Rechnung da- für nicht zahlen. Wir brauchen deshalb sofort einen Grünen Krankenschein, können Sie uns nicht ganz schnell trauen?“

Doch nicht immer kann eine nachträgliche staatliche Trauung das Problem lösen. Denn nach wie vor gibt es religiöse Fundamentalisten, die trotz staatlichen Verbots, aber mit dem Segen eines örtlichen Imam mehrere Ehefrauen haben. Traditionalisten legen sich ihren Koran bis heute so zurecht, dass ein Mann bis zu vier Frauen heiraten darf, „wenn er in der Lage ist, alle vier glücklich zu machen“.

Diese Koranauslegung ist allerdings auch unter islamischen Theologen höchst umstritten. Der Mufti von Alanya, einer Stadt am Mittelmeer, hat als ranghoher Geistlicher jüngst dazu Stellung genommen und auf den historischen Kontext verwiesen, auf den der Koran sich im sechsten Jahrhundert bezogen hatte. Damals, so der Mufti Muhammed Gevher, sollte diese Regelung dazu dienen, Frauen, deren Männer oder Väter gestorben waren, davor zu bewahren, in existenzielle Not zu geraten. „Die Vorschrift betrifft nur diese speziellen Umstände und rechtfertigt keinesfalls eine heutige Vielehe, die nur den Bedürfnissen des Mannes dienen soll.“

Damit hatte der Mufti auch das eigentliche Problem benannt. Die Ursache für das häusliche Elend hunderttausender Frauen vor allem auf dem Land ist weniger die Religion als vielmehr die patriarchalische Struktur der Gesellschaft. Schlimmster Ausdruck dieser männerdominierten Gesellschaft sind auch nicht die Frauen ohne Gesundheitsversorgung oder Frauen in der Rolle als Zweit- oder Drittfrauen, denn dies ist praktisch Normalität in Ostanatolien. Der äußerste Ausdruck dieses Gewaltverhältnisses ist vielmehr die Ermordung von Tochter, Schwester oder Frau, wenn diese sich den Heiratswünschen der Familie widersetzen oder durch angebliches Fehlverhalten die Ehre der Familie verletzten.

Diese so genannten Ehrenmorde sind in der Türkei vor allem durch die jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen der Armee und der kurdischen Arbeiterpartei PKK verdeckt worden. Solange dieser Bürgerkrieg den Südosten der Türkei beherrschte, wurde über Frauenschicksale und innerfamiliäre Probleme öffentlich nicht geredet. Dazu kam, dass die pseudoprogressive Rhetorik der vermeintlich linken PKK nach außen hin den Schein erweckte, als hätte mit der PKK auch die Emanzipation der Frauen Einzug in den kurdischen Bergen gehalten.

Suizidwelle bei Frauen

Eine eklatante Fehleinschätzung, wie sich bald, nachdem die Waffen schwiegen, zeigen sollte. Gerade in den Gebieten der Türkei, die durch den Bürgerkrieg verroht und sozial deformiert worden waren, häuften sich plötzlich die Meldungen über „Ehrenmorde“ und rätselhafte Suizidwellen unter jungen Frauen, die bei genauerem Hinsehen zumeist Selbstmorde auf Druck der eigenen Familie waren.

Eine im letzten Jahr eingerichtete parlamentarische Untersuchungskommission hat vor wenigen Wochen ihren Bericht abgeschlossen und wird ihn in diesen Tagen im Parlament vorlegen. Die Abgeordnete Gaye Erbatur, stellvertretende Vorsitzende der Kommission, sagte vor der Presse: „Wir waren geschockt über das Ausmaß an Gewalt, das Frauen in diesem Land erdulden müssen.“ Unter dem Vorwand, die Ehre der Familie zu schützen, würde Frauen eingesperrt, geschlagen, in extremen Fällen ihre Nase oder Ohren abgeschnitten oder sie würden zum Selbstmord gedrängt: „Kurz gesagt, sie werden gefoltert.“ Das Ergebnis des Reports der Kommission, so Erbaturs Fazit, sei, dass „Ehrenmord nur die extremste Form ist, um die männliche Dominanz über Frauen zu zeigen“.

Neben vielen Einzelvorschlägen, die die Kommission zur gesetzlichen und faktischen Verbesserung der Situation für junge Frauen auf dem Land macht, sticht ein Gedanke, den Gaye Erbatur betont, hervor. In der Türkei sagt sie, herrsche das Denken, die Familie als Institution genieße den größten Schutz.

Dass dieses Denken nicht nur unter ungebildeten Dörflern vorherrscht, sondern auch in den staatlichen Institutionen, zeigt die Geschichte mit den vermehrten standesamtlichen Heiraten. Zwar will der Staat gegen die Imam-Ehen angehen, zugleich aber bekommt eine unverheiratete Frau eben keinen Krankenschein. Sie ist auch für die offiziellen Stellen nur als Tochter oder als Ehefrau vorstellbar.