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Archiv-Artikel

„Zu viel Zeit verloren“

Kurt Beck, SPD-Chef und rheinland-pfälzischer Ministerpräsident, will das dreigliedrige Schulsystem schrittweise abschaffen und Migrantenkinder schneller integrieren. Für mehr Lehrer fehle das Geld

„Wir brauchen mehr Mut zur Offenheit und weniger Mathematik bei Zehntelnoten“

INTERVIEW PAUL SCHWARZ

taz: Herr Beck, Sie selbst besuchten in Ihrer Kindheit zunächst die Volksschule. Warum halten Sie trotz dieser persönlichen Erfahrung an dem dreigliedrigen Schulsystem fest, das doch immer noch die soziale Herkunft abbildet?

Kurt Beck: Die Durchlässigkeit ist die größte Herausforderung meiner politischen Arbeit. Nicht die formale – die ist ja vielleicht so groß wie nie zuvor –, sondern die tatsächliche Durchlässigkeit. Daran lasse ich mich gerne messen. Es kann doch nicht sein, dass in meinem Dorf beispielsweise niemand eine weiterführende Schule besucht hat – mit Ausnahme des Arztsohnes und eines Mädchens, das in ein Internat geschickt worden ist. Wir müssen Kindern aus bildungsfernen Schichten, Kindern aus Migrationsfamilien schulische Chancen bieten.

Das heißt, Sie möchten Gymnasium, Realschule und Hauptschule zusammenlegen?

Was die Aufhebung der Dreigliedrigkeit angeht, so muss man in Deutschland schrittweise vorgehen, wenn man nicht in einer ideologischen Sackgasse landen will. Wir müssen die Menschen überzeugen. Und wenn ich sehe, wie die Gesamtschulen angenommen werden, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Wie kann vor allem Migrantenkindern geholfen werden, damit sie bessere Chancen in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt bekommen?

Wir haben in Deutschland mit der generellen Diskussion über Zuwanderung zu viel Zeit verloren, anstatt die Integration über die gelernte deutsche Sprache zu beschleunigen.

Was muss man tun?

In Rheinland-Pfalz haben wir eine breite Palette von Förderangeboten für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund teilweise auch außerschulisch angeboten und zum Beispiel von der Arbeitsagentur finanziert. Wir versuchen von diesem Jahr an, über die Gebührenfreiheit im letzten Kindergartenjahr den Anreiz zum Besuch eines Kindergartens zu erhöhen. In Zukunft stellen wir bereits bei der Schulanmeldung fest, ob ein Kind den Kindergarten besucht hat, und wenn nicht, ob es sprachliche Defizite hat. Dann bekommt es auch Sprachförderung. In der Schule setzt sich diese Sprachförderung dann fort. Wir setzen dafür erhebliche Mittel ein, allein acht Millionen Euro für Sprachförderung und Schulvorbereitung in Kindertagesstätten.

Was können die Bundesländer tun, um Chancengleichheit herzustellen? Bisher setzen sie auf Vergleichs- und Abschlussarbeiten und verfestigen so doch die Ungleichheit der Bildungschancen.

Ich glaube, dass wir auf Qualität setzen müssen in unserem Bildungssystem. Gleichzeitig dürfen wir nicht auf Aussonderung der Schülerinnen und Schüler setzen. Wir brauchen Zwischendecks, um die Qualität des Unterrichts festzustellen, nicht so sehr die des einzelnen Schülers oder einer Klasse. Am Ende eine Prüfung zu machen mit dem Ergebnis durchgefallen oder nicht, bringt wenig. Ich bin kein Gegner von Abschlussprüfungen, aber sie zum Maßstab der Leistungsfähigkeit von Schule zu machen, halte ich für verkehrt.

Nun heißt es allerorts: von Finnland lernen. Warum schaffen wir das nicht?

Trotz föderaler Strukturen sind die Größenordnungen sehr unterschiedlich. Finnland hat nicht annähernd eine solche Migrationsquote wie Deutschland. Außerdem wurde in den nordischen Ländern über Jahrzehnte hinweg eine sehr auf sozialen Ausgleich bedachte Politik gemacht – sodass der Teil der Bevölkerung, der nach unten wegzurutschen droht, nicht so stark ist wie bei uns.

Hierzulande herrscht immer noch Streit.

Bei uns ist die Bildungspolitik jahrzehntelang ideologisiert worden. Denn es ist ja eines der Totschlagargumente, dass wenn du über gleiche Chancen in den Schulen redest, die Hälfte der Republik Gleichmacherei darunter versteht. Die finnische „Schule für alle Kinder“ wird von der CDU auch mit dem Wort „Einheitsschule“ diffamiert. Die Befürworter des gegliederten Schulwesens möchten noch mehr aussortieren, am liebsten auf das Viertel verzichten, das uns nach unten zieht. Mehr Selektion, bessere Leistung, so lautet die Reihenfolge.

Rheinland-Pfalz ist Vorreiter bei den Ganztagsschulen. Wie hat sich Ihr Modell bewährt?

Es hat sich was Entscheidendes verändert: Kinder gehen gemeinsam länger zur Schule. Bei den neueren Bewerbungen, eine Ganztagsschule zu werden, sind deutlich mehr Gymnasien dabei. Wer sein Kind in eine Gemeinschaftseinrichtung gibt, ist eine schlechtere Mutter – von diesem Vorurteil müssen wir uns in Deutschland trennen. Auch die Konservativen beginnen hier umzudenken.

Der Ganztagsschule wird jedoch der Vorwurf gemacht, dass am Nachmittag nicht unterrichtet, sondern lediglich betreut würde.

Da müssen wir sicher aufpassen. Anspruch und Wirklichkeit decken sich nicht immer hundertprozentig. Für mich gehört es freilich schon zur Bildung, wenn am Nachmittag der örtliche Sportlehrer aus einem Verein oder ein Musiklehrer aus einer Musikschule mit den Kindern arbeitet. Das ist mehr als Betreuung. Wir haben jetzt über 300 Ganztagsschulen, 60 weitere kommen dazu, und mir ist noch kein Flop begegnet. Da gibt es Einzelschwächen, die man angehen muss. Angesichts der Eigenverantwortlichkeit der Schulen muss man aber auch eine gewisse Toleranzbreite bejahen. Es muss nicht an jeder Schule so laufen, wie ich mir das jetzt gerade ausgedacht habe, und wenn es total in die falsche Richtung läuft, kann ja auch die Schulaufsicht noch nachtarieren.

Was ist der Vorteil einer Ganztagsschule für die Schüler?

Man geht in die Schule, um etwas zu lernen in einem alten, traditionellen Sinne. Schule ist aber gleichzeitig auch ein Ort, an dem es um Umgangsformen geht, um das soziale Miteinander. Soziale Erziehung bringen viele Kinder von zu Hause aus unterschiedlichen Gründe nicht mehr mit, dafür muss dann die Schule sorgen. Wir entlassen junge Menschen in die Gesellschaft, sodass sie wissen müssen, was sie dort erwartet, worauf es außerhalb der Schule heute ankommt im Beruf und gesellschaftlichen Leben. Das ist mehr als nur kognitives Wissen. Das sind beispielsweise kommunikative Fähigkeiten, die Fähigkeit, im Team zu arbeiten. Dazu gehören aber auch Durchsetzungsvermögen und Durchhaltevermögen.

Sollte die Ganztagsschule verpflichtend eingeführt werden?

Nein, ich glaube, wir sollten an der Freiwilligkeit festhalten. Ich bin überzeugt, dass sich das Rad der Ganztagsschule so wie in Rheinland-Pfalz oder modifiziert in Deutschland nicht mehr zurückdrehen lässt.

Viele Lehrerinnen und Lehrer in Rheinland-Pfalz fühlen sich bei der Umsetzung der Bildungsstandards von der Politik allein gelassen. Es würde zu wenig an methodischer und praktische Hilfe geboten.

Den Schulen stehen eigentlich sehr viele Beratungspersonen, Moderatorinnen und Moderatoren zur Verfügung, die jedoch leider teilweise viel zu wenig angefragt werden. Vielleicht sollten wir diese Angebote noch stärker bewerben, aber die Schulen müssen diese Unterstützung auch abrufen.

Das heißt, die Lehrer nehmen die Angebote nicht an?

„Ganztagsschulen haben sich bewährt. Schüler erlernen dort Umgangsformen“

Die individuelle Fortbildungsbereitschaft bei den Lehrkräften ist hoch. So haben im vergangenen Jahr allein 37.000 Personen an Veranstaltungen des staatlichen Fortbildungsinstituts in Rheinland-Pfalz teilgenommen. In der neuen Lehrerausbildung ist der Umgang mit Heterogenität verpflichtender Bestandteil innerhalb des neuen Ausbildungsbereichs Bildungswissenschaften. In Zukunft wird also nicht erst im beruflichen Alltag, sondern schon während des Studiums das pädagogische Rüstzeug für eine individuelle Förderung vermittelt. Natürlich ist es logisch, nach Qualitätstests die sichtbaren Mängel zu beheben. Schulaufsicht und pädagogische Serviceeinrichtungen sollten gemeinsam mit den Schulen versuchen, die Defizite auszugleichen.

Könnten die Defizite dadurch behoben werden, dass man mehr Lehrer einstellt?

Ich suche nach praktikablen Lösungen. Ich kann Ihnen allerdings nicht sagen, wir stellen noch 5.000 Lehrerinnen und Lehrer ein, sonst bricht mir der Laden über dem Kopf zusammen. Das wird eh immer schwieriger, denn Unwichtiges gibt es kaum noch, es gibt viele Prioritäten.

Wichtiger als neue Lehrer ist für die Landesregierung offensichtlich die „Agentur für Qualitätssicherung“. Warum eine teure Agentur, die an ein, zwei Tagen Schulinspektion doch kaum feststellen kann, wo Stärken und Schwächen einer Schule liegen? Müsste nicht die Reihenfolge lauten: erst Innovation, dann Evaluation?

Ich bin mir nicht sicher, ob man das hintereinander machen kann. Es ist ja bisher auch nach Qualitätsmaßstäben gearbeitet worden, und unser Schulsystem ist bei aller Kritik nicht so schlecht, wie manche es beschreiben. Der Gedanke von Qualitätsorientierung ist für ein Schulwesen nicht nur legitim, sondern notwendig. Wer sich nicht behauptet, wird untergebuttert. Wir brauchen diese Offenlegung von Qualität auch für unsere gesellschaftlichen Diskussionen um Schule. Dabei sollten wir auch versuchen, das Image des Lehrerberufs bei uns zu verändern.

Inwiefern?

Da ist manches eingerissen, was ich nicht für gut halte. Zum Beispiel die Meinung, wer nichts Gescheites machen kann, wird halt Lehrer. Eine idiotische Haltung, die wir zugelassen haben und gegen die wir gemeinsam angehen müssen, auch mit einer solchen Agentur. Mein Versuch, Lehrerinnen und Lehrer leistungsbezogen zu entlohnen, ist auch am Widerstand von Lehrerverbänden gescheitert. Ich bin halt so groß geworden, beruflich meine ich: Ich habe Akkord gearbeitet, und da wurden dann Schnelligkeit und Qualität belohnt. Wenn das aber nicht geht im Lehrerberuf, dann müssen wir schauen, dass wir am gesellschaftlichen Ansehen der Lehrerschaft etwas ändern. Ich würde mich auch wünschen, dass wir bei manchen Seiteneinsteigern, die hochqualifiziert sind, aber kein zweites Fach anbieten können, in die Schule übernehmen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht im System erstarren. Mehr Mut zur Offenheit und weniger Mathematik, wenn es um Zehntelnoten geht.

Wie soll dabei eine Qualitätsagentur helfen?

Es liegen sowohl nationale als auch internationale Erfahrungsberichte vor, die belegen, dass ein- und mehrtägige Schulbesuche wertvolle Einblicke in die schulische Wirklichkeit der einzelnen Schule geben. Diesen Blick von außen kann die Einzelschule bei aller eigenen Qualitätsarbeit nicht selbst leisten. Er ist so wichtig wie eine Landkarte für Wanderer oder Reisende.