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Archiv-Artikel

„Wohin soll ich weg?“

Ein Fall für die gerade gegründete Härtefallkommission: Petr Butorin lebt seit 13 Jahren in Deutschland, hat in Russland alles aufgegeben. Jetzt soll er abgeschoben werden

Als „unbedingt zuverlässig, immer pünktlich“ loben ihn die Leute im Viertel

von Susanne Gieffers

Petr Butorin hat mehrere Leben. Zwei mindestens: eines in Russland, das ist vorbei. Und eines in Deutschland, in Bremen, das soll bald vorbei sein – wenn es nach dem Willen der Behörden geht. Wenn es nach dem Willen von Butorin, seiner Partnerin, seinem Sohn, vielen Viertel-Bürgern und Freunden geht, dann ist sein Leben hier lang nicht vorbei. Dann ist er mittendrin. Petr Butorin könnte einer der ersten Fälle für die gerade konstituierte Härtefallkommission werden.

„Jeder Mensch hat mehrere Leben“, sagt Petr Butorin mit den harten Konsonanten und den breiten Vokalen der Menschen aus dem Osten. Er meint damit nicht sich, sondern die, mit denen er täglich zu tun hat: Arme, Reiche, Junge, Alte, die ganze Welt eben auf den Straßen zwischen Sielwall und Goetheplatz, zwischen St. Jürgen-Straße und Dobben. Ihren Dreck macht er täglich weg, sammelt Kippen und Papier ein, Spritzen, Flaschen, Scherben. Petr Butorin arbeitet beim Quartiersservice, seit sieben Jahren schon.

In Russland, in der Stadt Orsk im Südural war Butorin zuletzt Vizedirektor einer Baufirma. Dann ist er seiner Frau nach Deutschland gefolgt. „Das Leben kommt nicht gerade. Aber mal oben, mal unten – das ist das Leben“, sagt er. Butorin, könnte man glauben, hat langsam ein Oben erreicht. Aber dieses Oben ist zerbrechlich.

Butorins Frau, eine Russlanddeutsche, kommt 1991 nach Deutschland. Er darf nicht. Butorin hat einst bei der Flugabwehr gearbeitet und darf deshalb Russland 25 Jahre nicht verlassen. Diese Frist läuft 1993 ab. Weil aber das Ausreiseverbot zuvor auch für seine Frau und seine zwei Töchter gilt, haben die Butorins in der Sowjetunion die Scheidung eingereicht. Formal. Damit seine Familie gehen kann.

Als Butorin nachzieht, bekommt er durch seine Frau die deutsche Staatsangehörigkeit. Niemand kümmert sich mehr um das russische Scheidungsverfahren. Das läuft: Als Butorin nach Deutschland kommt, ist er von seiner Frau nach russischem Recht geschieden.

Das erfährt der heute 59-Jährige aber erst, als die Ehe hier Jahre später in die Brüche geht und Butorin seine neue Liebe, eine Russin, heiraten und dafür seinen Familienstatus wissen will. Heiraten darf er dann nicht, weil das Bremer Oberlandesgericht (OLG) die russische Scheidung nicht anerkennt. Dafür tut dies das Stadtamt: weil Butorin schon bei der Einreise geschieden gewesen sei, sei damit auch die Voraussetzung für seine Einbürgerung entfallen, diese somit rückgängig zu machen: Im Jahr 2000 muss Petr Butorin seinen deutschen Pass zurückgeben. Seither ist er geduldet.

Butorin klagt, seinen Fall verhandelte das Verwaltungsgericht erst in diesem März. Und während das OLG die russische Scheidung nicht anerkennt, hält das Verwaltungsgericht diese Scheidung für rechtswirksam und Butorins Einbürgerung somit für ungültig. Nun droht die Abschiebung.

Wenn Petr Butorin lacht, wenn er erzählt von seiner Arbeit – „Gott sei Dank habe ich Arbeit“ – von den Leuten, „die auf guten Straßen spazieren gehen wollen“, von seinem einzigen Urlaubsort, „eine kleine Insel beim Achterdieksee“, dann ist der Druck nicht zu merken, der auf ihm lastet. Seiner Freundin aber gehe es schlecht. „Angst, Stress“, sagt Butorin. Und längst geht es nicht mehr nur um diese beiden: Sie haben hier einen Sohn bekommen, sieben Jahre alt ist er inzwischen, geht zur Schule, sein Vater ist im Schulverein. „Für diesen Jungen muss ich kämpfen“, sagt Butorin und lacht nicht mehr.

Petr Butorin ist ein Vorzeigebeispiel in Sachen Integration: er lebt nicht vom Staat, ist vielfältig engagiert, als ehemaliger Volleyball-Nationalspieler hat er jetzt mit den Senioren des TV Eiche Horn die nordwestdeutschen Meisterschaften gewonnen – und er macht klaglos, sogar gerne den Dreck anderer Leute weg.

Butorin soll bleiben dürfen. Das finden im Viertel viele Menschen, die ihn täglich sehen. Sie schreiben ihm Zeugnisse, Briefe, wie schön es sei, dass es ihn gibt. Auch die Männer vom TV Eiche Horn schreiben solche Briefe. „Unbedingt zuverlässig, immer pünktlich“ sei Butorin, lobt einer, „ein engagierter Sportkamerad“. Sie bescheinigen ihm „Offenheit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Pflichtbewusstsein“ – was mehr kann ein deutsches Amt denn wollen von seinen Bürgern.

Robert Bücking, Ortsamtsleiter im Viertel, hat zugesehen, „wie der hier Wurzeln schlägt“. Wie Butorin sich in Schule und Sportverein engagiert, wie sein Sohn groß wird, wie Butorin oft mehr tut, als seine Stelle beim Quartiersservice verlangt. „Wer sich so einbringt in einem so schwierigen Feld für so wenig Geld, der sollte ein bisschen was von uns zurückbekommen“, sagt Bücking. „Er hilft uns mehr als umgekehrt.“

Der Anwalt Albert Timmer will Butorins Geschichte nun vor die Härtefallkommission bringen. Weil „dringende humanitäre und persönliche Gründe“ vorliegen, dass Butorin und seine zweite Familie bleiben dürfen.

Petr Butorin erzählt derweil von Deutschland, „meinem Land“, von Bremen, „meiner Stadt“ und von Werder, „meinem Verein“. In Russland hat er nichts mehr, keine Familie, keine Freunde. Als seine erste Ehe hier in die Brüche ging, da hat seine Frau zu ihm gesagt: „Du musst jetzt hier weg.“ Butorin hat sich damals gefagt, was er heute erst recht nicht mehr beantworten kann: „Wohin soll ich weg?“