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Archiv-Artikel

Melancholie im Gedränge

Wenn Museen zu Eventtempeln werden und mit Blockbuster-Ausstellungen einen Kunstkanon zementieren, werden sie ihrem Auftrag nicht mehr gerecht: Sie feiern die Vergangenheit und verstellen den Blick auf die Gegenwart

Die Ausstellung „Melancholie“, durch den Bekanntheitsgrad der Künstler und Werke und die geschickte Promotion als mediales Großereignis gefeiert, ist im schnell drehenden Karussell des Kunstbetriebes ein weiterer „Blockbuster“. So nennt man erfolgreiche Hollywoodfilme, wenn sich vor der Kinokasse lange Zuschauerschlangen um den Häuserblock herum bilden.

Das Interesse der Menschen an der Kunst wird größer, denn Kunstwerke transportieren geistige Inhalte, die anderweitig nicht transportierbar sind. Die mediale Überflutung von Bildern nährt die Sehnsucht nach dem Original und seiner Aura. Die Zuschauer erleben solche Ausstellungen von berühmten Künstlern und herausragenden Werken der Vergangenheit als starken, überwältigenden Eindruck. Die gruppendynamische Intensität solcher Ausstellungen verschränkt sich mit der energetischen Aufladung der Räume durch die Qualität der Werke und deren Präsentation.

Während die „alten Hasen“ das Déjà-vu-Erlebnis goutieren, entdeckt eine jüngere und mittlere Generation eine Kunst, von der sie ansatzweise im Kunstunterricht eine Ahnung vermittelt bekam. So entwickelt im Zeitalter der totalen Kommunikation der durch die Medien zum „must see“ katapultierte Blockbuster eine unausweichliche Sogkraft. (So wie André Maurois sagte, das Schaffen eines Schriftstellers bestehe aus 10 % Genie und 90 % harter Arbeit, so besteht das Produkt „Ausstellung“ aus 10 % Substanz und 90 % Kommunikation.) Als André Malraux in den fünfziger Jahren sein „Imaginäres Museum“ schwarzweißer Fotos publizierte, ahnte er nicht, dass er mit der Gegenüberstellung von grandiosen Werken aus verschiedenen Zeiten und Kulturen die Blaupause für den Blockbuster der Zukunft schaffte.

Die Blockbuster setzen auf Bewährtes. Die Besucher wissen, dass sie sich in einer abgesicherten Domäne bewegen, dass sie das, was sie sehen, für bare Münze nehmen können. Auch wenn das eine oder andere Werk immer noch die Ungewissheit des Neuen und Ungewöhnlichen besitzen mag, so hat doch die Kunstgeschichte ihr Machtwort gesprochen, und es liegt am Besucher, sich darauf einzulassen.

Aber was wird aus den Kunstwerken, wenn die Blockbuster immer weitergehen? Es gibt jetzt schon Werke, die einfach nicht mehr transportabel sind. Und doch können „politische“ Gründe oder schlicht das Geld der Sponsoren die Ausleihung an solche Blockbuster erzwingen und damit irreversible Schäden verursachen. Selbst die großen Museen werden durch solche „Events“ zu Ausstellungshallen degradiert.

Personell meistens unterbesetzt, können sie ihrer eigentlichen Aufgabe nicht mehr gerecht werden. Damit ist nicht nur eine souveräne Ankaufpolitik und wissenschaftliche Forschung gemeint, sondern auch jene unerhört anspruchsvolle und arbeitsintensive Aufgabe, die eigenen Sammlungen in einem immer wieder neuen Licht zu präsentieren. So schlafen manche Sammlungen ein, weil sie nicht gefordert werden.

Die übermächtigen Blockbuster lenken von der Gegenwart ab, verstellen den Blick auf sie, verlagern den Akzent auf eine emphatisch gefeierte Vergangenheit, obwohl jedes Kunstwerk, welcher Zeit es auch immer angehört, stets gegenwärtig ist. Blockbuster behaupten: Hier ist die Kunst und dort ist das andere.

So zielt der Blockbuster auf den großen, gemeinschaftlichen Nenner, formuliert vehement einen auch finanziellen Allgemeinheitsanspruch, profiliert sich als Leuchtturmprojekt und verweist dadurch alternative Bestrebungen in die Nische.

Solche Blockbuster sind nicht innovativ. Sie zeigen keine neue Denkrichtung auf, sondern sind Teil der Wirtschaftsförderung, in der, statt Artenvielfalt in der Kunst zu fördern und ihr in einem erhellenden Zusammenhang eine Perspektive zu verleihen, tonnenschwere Dinos gezüchtet werden. Zu bewundern ist nur die Geduld der Besucher, die viele Stunden um den Block herum anstehen, um die Monster in Augenschein zu nehmen.

JEAN-CHRISTOPHE AMMANN

Der Autor, 1939 in Berlin geboren, war von 1989 bis Ende 2001 Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt