piwik no script img

Archiv-Artikel

„Erich Mielke hat uns finanziert“

WENDEPRESSE Vor zwanzig Jahren gründete Torsten Schulz eine der ersten alternativen Zeitungen Ostberlins. Der Drehbuchautor („Boxhagener Platz“) über Visionen, das Schmoren im eigenen Saft und wie er dem „Spiegel“ eine Story vermasselte

Torsten Schulz

Vorwende: 1982 bis 1986 Studium der Film- und Fernsehwissenschaft an der HFF Babelsberg

Nachwende: Filmemacher, Drehbuchautor, Schriftsteller („Boxhagener Platz“, „Revolution und Filzläuse“), seit 2002 Professor für Praktische Dramaturgie

Soziale Ader: Verteidigt Torhüter Jens Lehmann immer noch, auch wenn andere auf ihm rumhacken

INTERVIEW SIMONE SCHMOLLACK

taz: Herr Schulz, genau vor zwanzig Jahren gründeten Sie in Ostberlin eine der ersten alternativen Zeitungen der DDR. Der Anzeiger, Wochenblatt für Politik, Kunst und Kultur, kam nur ganze zwölf Mal heraus. Warum?

Torsten Schulz: Der Anzeiger war kurzlebig, aber nicht das kurzlebigste Projekt nach dem Mauerfall. Wir, das war ein Dutzend Redakteure, hatten vom Zeitungsmachen überhaupt keine Ahnung, aber eine Vision: eine eigene Zeitung.

Wie kamen Sie auf diese Idee?

Wir kamen alle aus dem Literatur- und Filmbetrieb, waren befreundet und trafen uns seit Mitte der 80er-Jahre regelmäßig in diversen Kneipen in Prenzlauer Berg. Wir tranken nicht wenig und debattierten heftig. Die Frustration im Osten war groß und wir überlegten, was wir tun würden, wenn wir alles tun dürften. Und wir kamen immer wieder zu dem Schluss, dass es eine eigene Zeitung sein muss.

Wie sah das Blatt dann schließlich aus?

Es war ein Sammelsurium aus Reportagen, Porträts, Glossen, Erzählungen, Lyrik, Politik, Dokumenten, Rezensionen.

Etwas Ähnliches gab es doch schon in der DDR, beispielsweise in der Wochenpost oder bei der Monatszeitschrift Das Magazin .

Unser Blatt sollte etwas vollkommen Neues und vor allem unabhängig sein, es sollte unseren Geist atmen, unsere Kreation sein.

Welche Themen nahmen Sie ins Blatt?

Die Themen standen und fielen mit den Interessen der Redakteure. Die politische Berichterstattung beispielsweise bestand tendenziell nur aus zwei Bereichen: den Geschehnissen im ehemals revolutionären Lateinamerika und den Eigentumsverhältnissen in Prenzlauer Berg.

Und die Tagespolitik?

Interessierte uns nur in Bezug auf größere Zusammenhänge, die sich dahinter verbargen.

Wer hat den Anzeiger gelesen?

Leute, die so waren wie wir: Bürgerrechtler, Oppositionelle, junge Künstler, Anarchisten und Möchtegernanarchisten.

Schmorten Sie da nicht im eigenen Saft?

Total. Die starke Übereinstimmung von Autoren- und Leserschaft war ein großes Problem. Im Grunde waren wir ein Selbstverständigungsorgan: Wir haben geschrieben und gedruckt, was wir wollten. Wir fragten nicht danach, wen das wie stark interessierte. Wir druckten sogar Lyrik, in manchen Ausgaben auf zwei Seiten.

Wollte das jemand lesen?

Sicherlich nur sehr wenige. Aber wir haben es trotzdem gemacht, weil wir das richtig fanden: Endlich gab es mal Platz für etwas, das sonst kaum jemand zur Kenntnis nahm.

Wie hoch war die Auflage?

Keine Ahnung, vielleicht ein paar tausend Exemplare. Dass ich das nicht so genau weiß, sagt doch schon alles, oder?

Und die paar tausend Leser kamen alle aus Berlin-Prenzlauer Berg, wo die Boheme beheimatet war?

Eigentlich sollte Der Anzeiger überregional sein. Aber wir hatten permanent Vertriebsprobleme, sodass am Ende das Blatt aus Berlin hauptsächlich für Berlin gemacht wurde.

Wie hat sich Der Anzeiger finanziert?

Durch Erich Mielke.

Bitte?

Erich Mielke hat den Anzeiger indirekt finanziert. Die Zeitung erschien im Basisdruckverlag. Den Verlag gibt es heute noch in Prenzlauer Berg. Der hatte sich kurz nach der Wende gegründet und im März 1990 die Dokumentensammlung „Ich liebe euch doch alle“ herausgegeben. Der Satz stammt von Ex-Stasi-Chef Mielke, das Buch sammelte Reden und Befehle von Mielke. Die Texte waren voller unfreiwilliger Komik und Tragik. Das Buch wurde ein Megaseller.

Und die Einnahmen hat Ihnen der Verlag einfach so gegeben?

Ja. Der Verlag war so generös, dass er das Geld nicht verschleuderte oder gar in die eigene Tasche wirtschaftete. Er hat davon den Anzeiger subventioniert und auch noch eine weitere Zeitung aus dem eigenen Verlag, die andere. Beide Blätter waren defizitäre Projekte.

Eine geringe Auflage und mangelndes Käuferinteresse sprechen dafür, dass Der Anzeiger niemanden interessierte.

Wir sahen das damals anders. Wir sagten uns: Wir sind gut, wir haben was zu sagen, wir passen in die Zeit, alles andere kümmert uns nicht. Das war so eine Art Trotzhaltung, wie sie uns unbewusst in der DDR anerzogen worden war: Wenn man uns nicht kauft, ist man selber schuld.

Eine arrogante Haltung.

Im Rückblick stellt sich das natürlich als sehr arrogant dar. Aber damals haben wir das nicht so gesehen. Das war auch unserer unbedarften Jugendlichkeit geschuldet.

War der Anzeiger ein Ventil, angestaute Frustrationen aus dem Osten loszuwerden?

Psychologisch muss man das heute so sehen. Wir reflektierten uns selbst und wir wollten uns unbedingt selbst verwirklichen.

Andere Zeitungen 

■ Ab Anfang 1990 entstanden überall in der DDR Zeitungsprojekte – der Bürgerrechtsbewegung, von KünstlerInnen, anderen unabhängigen Gruppen. Sie einte das „Anderssein“, anders als die staatstragende SED- und sonstige Parteipresse. Die kam mit der Wende zwar arg ins Schlingern, blieb aber wirtschaftlich und organisatorisch obenauf und wurde ab dem Frühjahr generalstabsmäßig von großen BRD-Verlagen aufgekauft. Für die diversen Anderen – neben Berlin überlebte auch die Die Andere Zeitung (DAZ) aus Leipzig noch bis 1991 – wurde der Spielraum mit der Währungsunion und dem Vollzug der Wiedervereinigung immer enger. Sie bleiben, wie so vieles aus der Wendezeit von 1989/1990, ein (kurzes) Stück gelebter Utopie.

So etwas kann ja nicht lange gutgehen.

Irgendwann war uns das auch klar. Ich habe unser Projekt eigentlich von Anfang als Intermezzo betrachtet. Ich fiel dann auch nicht in eine Identitätskrise, als es vorbei war. Ich kam ja vom Film und wollte Drehbücher schreiben. Aber der Anzeiger war eine großartige Gelegenheit, sich auszuprobieren. Ich bin mal nach Frankfurt (Oder) gefahren, um eine Reportage zu schreiben. Ich hatte keine Erfahrungen in dieser Hinsicht. Aber im Gepäck trug ich die Reportagen von Joseph Roth. So wollte ich auch schreiben.

Besonders professionell war das Blatt nicht gemacht …

Ja. Das erkannte dann auch der Verlag, der nach zwölf Ausgaben nicht mehr bereit war, uns weiter zu subventionieren. Der Anzeiger fusionierte mit der anderen.

Wie die taz hat die andere Listen mit Stasi-Adressen veröffentlicht. Wie wurde das in der Redaktion debattiert?

Gar nicht. Diskutiert wurde nur in einem kleinen Zirkel innerhalb der Redaktion, dem ich nicht angehörte. Es standen wohl zwei Positionen gegeneinander: Soll man ungeprüfte Listen veröffentlichen oder nicht? Als bekannt wurde, dass der Spiegel diese Listen auch hat, entschied man rasch: Wir müssen schneller sein. Und veröffentlichten die Listen einfach. Die Entscheidung erfolgte gegen unsere Prinzipien von Basisdemokratie, denen zufolge die gesamte Redaktion hätte beteiligt werden müssen.

Dem Spiegel wurde eine große Story vermasselt.

Das schon, aber zu welchem Preis? Es meldeten sich schnell zahlreiche Menschen, die zu Unrecht beschuldigt worden waren, nur weil sie zufälligerweise genauso hießen wie jemand auf der Liste, der drei Straßen weiter wohnte. Das war nicht in Ordnung und erinnerte mich an den unschönen Spruch: Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne.

War die Redaktion selbst denn „stasifrei“?

Nein. Wir hatten, wenn ich mich richtig erinnere, zwei ehemalige IM. Der eine gab es selbst zu, der andere wurde geoutet. Beide mussten gehen.

Wie haben Sie die Produktion der letzten Ausgabe des Anzeigers erlebt?

Ich fand es gut, dass wir mit der anderen fusionierten. Und ich hatte den Eindruck, dass auch das wieder nur ein Intermezzo sein würde. Am Schluss fühlte ich mich wie zum Ende der DDR: Ich wusste nicht, wie es weitergeht, aber vieles war möglich. Und das war gut so.