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Archiv-Artikel

Was treibst du eigentlich?

MUTTER Jetzt ist sie weg. Um zu studieren und ihr Glück zu finden. Oder hat die Mutter da was falsch verstanden?

Nachfragen empfindest du als Druck, Mitgefühl als vorgeschoben. Du hast nicht Unrecht

Liebes Kind, du bist so verdächtig oft erreichbar. Wenn ich dich tagsüber anrufe, nimmt da öfter eine leicht verschlafen wirkende Tochter ab. Abends bist du nicht zu Hause. Heißt das Studieren?

Mag sein, ich kapier das alles nicht. Also was Studieren im 21. Jahrhundert eigentlich heißt für die, die in diesem System rumschwirren. Der ganze verwirrende Bachelor- und Masterkram, die Kurse, Tutorien, Einschreibgebühren und so weiter erzeugen bei einer Mutter, deren eigenes Studium in einem komplett verschulten DDR-System lange zurückliegt, nur weißes Rauschen. Deshalb frage ich mich manchmal: Was treibst du da eigentlich die ganze Zeit?

Ich weiß, das geht mich bei Weitem nicht so viel an, wie ich meine. Nicht umsonst bist du 250 Kilometer weit weg gezogen, um unbehelligt von mir an deinem eigenen Lebensentwurf schrauben zu können. Ohne Eltern, die – selbst wenn sie wollten – nicht ignorieren könnten, zu welchen Tages- und Nachtzeiten du kommst und gehst, wie viel du schläfst, was du wieder Ungesundes isst. Und um ehrlich zu sein, auch mir geht es besser, seit wir deine Möbel in diese unglaublich schöne und billige Leipziger Altbauwohnung getragen haben. Ein unverhofft gutes Gefühl, nicht mehr wissen zu müssen.

Dennoch, überall lese und höre ich, dass Studieren in diesem Land, an diesen Unis keinen Spaß machen soll. Kann das wirklich sein? Um recht verstanden zu werden: Ich wünsche mir natürlich, dass du da in Leipzig findest, wonach du suchst. Wissen, Erkenntnis, auch eine Grundlage für das, was du später mal tun willst. (Nebenbei: Was wäre das?) Aber ich wünsche dir außerdem und vor allem, dass du zufrieden bist mit dem, was du tust.

Erinnerst du dich an das ganze Hin und Her während der Abizeit, an unsere Gespräche darüber, was du „mal werden willst“? Das Lehramtsstudium hast du nach deinem Praktikum in einer Berliner Förderschule sofort ad acta gelegt, Jura schien dir zu viel Büffelei. Und dann war da diese gnadenlose Oberstufenkoordinatorin, die eurem Jahrgang verklickert hat, dass auf euch in diesem Land eh keiner wartet. (Zu Hause hast du geweint deshalb, und dafür hasse ich die Frau noch heute.)

Am Ende hast du dich mit deinem vielversprechenden Einserabitur für ein Orchideenfach eingeschrieben: Philosophie. Na ja, dachte ich, Hauptsache, sie ist zufrieden. Und das bist du nun leider doch nicht. Wenn wir telefonieren, erzählst du von überfüllten Seminaren, desinteressierten Kommilitonen und Büchernbüchernbüchern, die du durchackern musst. Ziel ist immer irgendeine Klausur oder Arbeit, die du dringend abgeben musst – solltest du scheitern, wäre alles aus. Das klingt furchtbar in meinen Ohren, weil dieses Unisystem offenbar keine Fehltritte, Krisen oder Nichtwissen vorsieht für Menschen, die gerade mal volljährig sind. Wo bleibt der Spaß? Ich höre da nichts.

Meine Nachfragen empfindest du als Druck, mein Mitgefühl als vorgeschoben. Soll ich dir was sagen? Da hast du gar nicht so unrecht. Denn außer dass du zufrieden mit dir und deiner Studienwahl sein mögest, dass du neue Freunde finden und mit denen nächtelang fiebrige Theoriediskussionen führen kannst, wünsche ich mir auch, dass das Ganze zu irgendwas führt. Zu einem Ergebnis, einer Perspektive, einem Expertentum, mit dem meine wunderbare Tochter einmal die Welt bereichern kann. Es hieße nebenbei gesagt auch, dass ich den monatlichen Dauerauftrag auf meinem Konto irgendwann mal löschen könnte, weil du dann auf eigenen Füßen stehst.

Liebes Kind, verstehst du mich? Oder hab ich wieder mal nix kapiert? Ich bin gespannt auf deine Antwort.

Anja Maier, 44, ist sonntaz-Redakteurin. Sie hat in den Achtzigerjahren in Ostberlin Werbeökonomie studiert