„Ostlehrer integrieren Migrantenkinder besser“

Schlechte Bildung für Einwanderer ist ein Westproblem, sagt Sozialpädagogin Karin Weiss. Die Sorgenkinder des Ostens sind die Rechtsradikalen

taz: Frau Weiss, Sie haben nachgewiesen, dass die schlechten Bildungsabschlüsse von Migranten in Deutschland ein Westproblem sind. Wie ist das genau?

Karin Weiss: In allen ostdeutschen Bundesländern gibt es unter ausländischen Jugendlichen mehr Abiturienten und weniger Sonderschüler als in allen Westländern. Die Spitze ist Brandenburg. Hier verlassen 44 Prozent aller ausländischen Jugendlichen die Schule mit dem Abitur. Damit gibt es in Brandenburg sogar mehr Abiturienten unter Zuwanderern als unter Deutschen.

Sind die Bedingungen im Osten besser, weil es dort weniger Migranten gibt?

Das spielt natürlich eine Rolle, ist aber nur ein Aspekt. In Brandenburg wurden trotz geringer Zuwandererzahlen frühzeitig Förderprogramme aufgelegt, besonders für Spätaussiedler. Es gibt flächendeckend Kindergärten, und es ist selbstverständlich, dass hier geborene vietnamesische und russische Kinder die Kindergärten besuchen. Da lernen sie Deutsch und wachsen in die deutsche Kultur hinein. Und viele Schulen im Osten haben mit Abwanderung zu tun, müssen um ihren Schulstandort kämpfen. Da sind sie ganz anders motiviert, auch schwierige Schüler zu integrieren als Schulen in westdeutschen Großstädten, die aus den Nähten platzen. Wenn der Brandenburger Innenminister Jörg Schönbohm Ausweisung und Arrest von problematischen Zuwanderern fordert, zeigt das nicht nur in die falsche Richtung. Er redet auch über ein Problem, das es in Brandenburg nicht gibt.

Was haben die unterschiedlichen Herkunftsländer der Migranten an Ostschulen im Vergleich zum Westen mit den Leistungsunterschieden zu tun?

Natürlich bringen jüdische Kontingentflüchtlinge aus den GUS-Staaten, die ganz überwiegend Akademiker sind, ein anderes kulturelles Kapital mit als Zuwanderer aus ländlichen Regionen, die nur eine begrenzte Schulbildung aufweisen. Eltern, die selbst gebildet sind, tun oft mehr für die Bildung ihrer Kinder. Migranten aus Vietnam und China, die im Osten zahlreich sind, haben ebenfalls hohe Bildungsansprüche. Es gibt unter ihnen keine Aussteigerkultur. Das spielt eine ganz wichtige Rolle. Materiell gesehen sind die Zuwanderer im Osten allerdings nicht weniger arm als die im Westen.

Verstellt das Medienbild, wonach Migrantenkinder lernunwillig und gewaltbereit wären, den Blick für ihre Talente?

Dieses Medienbild haben viele Lehrerinnen und Lehrer natürlich im Kopf, und das bringt manch ein Migrantenkind um eine Chance. Es kann ein großes Problem sein, wenn Neuankömmlinge automatisch ein Jahr zurückgestuft werden, weil sie schlecht Deutsch sprechen, ohne auf das Wissen und die Fähigkeiten dieser Kinder zu schauen. Migranten aus Russland oder manchen asiatischen Staaten haben in ihren Herkunftsländern in Mathematik und Naturwissenschaften mehr gelernt als Gleichaltrige in Deutschland. Unterforderungen können Lernmotivationen zerstören.

Ist das Problem der Rütli-Schule in Berlin und anderer ein ethnisches Problem oder eines der Hauptschulen?

Es ist ein Problem der Hauptschulen. Kinder aus sozial problematischen Familien haben wir auch unter deutschen Schülern. In Berlin-Neukölln sind es besonders Kinder aus Zuwandererfamilien. An anderen Schulstandorten finden Sie aber auch ganz schwierige Verhältnisse an Schulen, die keine Migrantenkinder haben. Die Schule muss sich für Kinder aus bildungsfernen und sozial perspektivlosen Familien öffnen und sie pädagogisch erreichen. Jeder zwölfte deutsche und jeder sechste ausländische Schüler verlässt in Deutschland die Schule ohne Abschluss. Das ist im europäischen Vergleich viel zu hoch. Die Pädagogik ist der Schlüssel für die Lösung. Die Drohung von Herrn Stoiber, wer nicht deutsch spricht, wird abgeschoben, ist da kontraproduktiv. Wir lösen das Problem aber auch nicht, indem wir Hauptschüler in die Realschule subsumieren, ohne über Pädagogik zu reden.

Sind ostdeutsche Jugendliche, die zum Rechtsradikalismus tendieren, eine vergleichbare Schülergruppe wie die Migrantenkinder in Berlin?

Das ist natürlich eine harte These, aber Gemeinsamkeiten gibt es. Beide Gruppen sind perspektivlos und reagieren mit Leistungsverweigerung und Gewalt.

INTERVIEW: MARINA MAI