: Keine Weicheipädagogik
Die Lehrer der Werner-Stephan-Hauptschule in Berlin-Tempelhof hissen trotz schwieriger Schülermischung nicht die weiße Fahne. Fast alle SchülerInnen bestehen dort den Abschluss. Das Erfolgsrezept: feste Regeln und Schüler als Streitschlichter
VON ALKE WIERTH
Besonders schön ist sie weder von außen noch von innen, die Werner-Stephan-Oberschule in Berlin-Tempelhof: ein einschüchternd hohes Gebäude aus rotem Backstein, davor eine schmucklose Turnhalle aus kahlem grau-grünem Beton. In dem Gebäude lassen die hohen Gänge und steilen Treppen selbst groß gewachsene Sechzehnjährige wie kleine Kinder wirken.
Ruth Jordan, stellvertretende Leiterin der Tempelhofer Hauptschule, steht vor dem Schulsekretariat. Es ist große Pause, und sie bespricht mit KollegInnen alltägliche Probleme. Murat sei heute wieder nicht zum Unterricht erschienen, berichtet eine Lehrerin. Mehrfach hat sie bereits bei seiner Familie angerufen. „Das ist bei uns so üblich“, sagt Ruth Jordan. Wenn Schülerinnen oder Schüler nicht zum Unterricht kommen, wird bei ihnen so lange zu Hause angerufen, bis sie da sind. „Manchmal haben die Eltern nur vergessen, das Kind krankzumelden.“ Doch öfter wird auch jemand aus dem Schlaf gerissen: jemand, der heute keine Lust auf Schule hatte oder mal wieder das Weckerklingeln überhört hat.
„Viele unserer Schüler sind morgens die Einzigen in der Familie, die aufstehen“, sagt Schulleiterin Jordan. Jahrelange Arbeitslosigkeit ohne Aussicht auf Besserung, Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung und dadurch eine Existenz am sozialen und ökonomischen Abgrund – viele Schülerinnen und Schüler der Hauptschule am südlichen Rand der Berliner Innenstadt stammen aus Familien in dieser Lage.
Ehemalige Kindersoldaten
Zuwandererfamilien sind zwar noch stärker als deutsche von Arbeitslosigkeit betroffen. Doch oft würde in den Migrantenfamilien „das Soziale“ noch etwas besser funktionieren, meint Jordan: „Eine Gleichgültigkeit wie bei manchen deutschen Eltern, die sagen, was kümmern mich die Probleme meines Kindes – das habe ich bei Migranten bisher nur selten erlebt.“ Unterschiede der ethnischen oder kulturellen Herkunft zeigen sich auch bei dem Umgang der Schüler mit Problemen. „Jeder hier hat seine eigenen Empfindlichkeiten, seine eigenen Erfahrungen“, meint die Schulleiterin. Beispielsweise die Schülerinnen und Schüler, die aus Sierra Leone oder Liberia kommen. Ungefähr fünfzehn sind das an der Werner-Stephan-Schule.
Manche von ihnen sind ehemalige Kindersoldaten. „Sie haben Ausmaße von Gewalt erlebt, das können wir uns gar nicht vorstellen“, sagt Ruth Jordan. Bei Konflikten zwischen anderen Schülern blieben sie oft ganz ruhig: „Das ist Kinderkram für sie“. Doch dieses Abgehärtetsein, die geringe Bedeutung, die diese Jugendlichen sogar ihrem eigenen Leben beimessen, sei ihr manchmal fast unheimlich, sagt die Schulleiterin.
Ein anderes Beispiel seien die Schüler aus Kasachstan: deutsche Spätaussiedler. Sie wären oft enttäuscht, weil sie sich Deutschland ganz anders vorgestellt haben. Man hatte ihnen gesagt, sie kämen nach Hause. Doch hier sind sie Fremde. „Sie hatten große Probleme mit unserem Toleranzkonzept“, sagt Schulleiterin Jordan. Es gab eine Menge Ärger zwischen ihnen und Schülern aus anderen Migrantengruppen.
Rund 40 Prozent der Kinder in einer durchschnittlichen Klasse an der Werner-Stephan-Oberschule sind „nichtdeutscher Herkunftssprache“, wie das im Beamtendeutsch heißt. Für Berliner Verhältnisse ist das gar nicht so viel.
In den Regelklassen der Werner-Stephan sind es sogar noch weniger. Denn die Schule bietet als eine der wenigen in Berlin noch Förderklassen an: Schulklassen für Kinder, die in bereits fortgeschrittenem Alter nach Deutschland einwandern, die also ohne Deutschkenntnisse in Oberschulen kommen. Das sind neben Flüchtlingen oder Aussiedlern auch Kinder, die beispielsweise durch Familiennachzug einreisen. Sie werden ein bis drei Jahre lang in besonderen Klassen unterrichtet, um dann in die Regelklassen der Hauptschule oder – je nach Leistung – auch in andere Oberschulen integriert zu werden.
Mit dieser Schülermischung klarzukommen ist nicht einfach. Die Werner-Stephan-Schule hat sich dazu einen ganzen Maßnahmenkatalog einfallen lassen. Toleranz und gegenseitige Akzeptanz gehören dabei zu den wichtigsten Prinzipien.
Böcke zu Gärtnern
Alle Schülerinnen und Schüler verpflichten sich auf ein Schulversprechen, dass die Klassensprecher gemeinsam aus- und regelmäßig überarbeiten. Darüber hinaus sind mehr als ein Viertel der insgesamt 300 SchülerInnen zu Streitschlichtern ausgebildet. Dabei sei es Programm, „Böcke zu Gärtnern zu machen“, sagt Reiner Haag, Vertrauenslehrer der Hauptschule. Sein Wissen über den Umgang mit schwierigen Schülern beruht auf jahrzehntelanger Erfahrung: Haag ist seit 30 Jahren Lehrer an der Werner-Stephan-Schule. „Damals hatten wir Probleme mit deutschen Schülern“, berichtet er, „und haben uns über jeden Schüler nichtdeutscher Herkunft gefreut.“ Weil das so gut erzogene Kinder gewesen seien. Heute hätten sie unter den gleichen sozialen Problemen zu leiden wie alle.
Für Haag steht fest: Respektlosigkeit darf man in keinem Fall durchgehen lassen. Bei Konflikten zwischen Schülern oder Schülern und Lehrern wird deshalb an der Hauptschule konsequent und vor allem schnell reagiert. „Unsere Schüler brauchen keine Weicheipädagogik“, sagt auch Schulleiterin Jordan. Viele kämen gerade deshalb gerne zur Schule: Sie brauchen feste Regeln, die ihrem Alltag, ihrem Leben Struktur geben. Und sie brauchen Verantwortung: das Gefühl, Aufgaben selbstständig und eigenverantwortlich übernehmen zu können. An der Werner-Stephan-Schule wird deshalb die Cafeteria von den Schülern selbst betrieben. Auch Praktika und Berufsvorbereitung spielen eine große Rolle.
Fast alle Schüler eines Jahrgangs bestehen so den Hauptschulabschluss, ein großer Teil auch den so genannten erweiterten, der ihnen den Übergang auf eine weiterführende Schule ermöglicht. Ausbildungsplätze fänden trotzdem die wenigsten, sagt die Schulleiterin: „Es sind vielleicht zwei oder drei eines Jahrgangs, die auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Lehrstelle finden.“ Oft seien das die, deren Eltern oder Verwandte Handwerksbetriebe hätten. Die übrigen würden in berufsvorbereitenden Maßnahmen oder außerbetrieblichen Ausbildungen landen.
Dass sie auf die Zukunftschancen ihrer Schüler nicht mehr Einfluss nehmen können, hält die 50 Lehrerinnen und Lehrer von ihrem Engagement nicht ab. Es sei sehr wichtig, dass wirklich alle an einem Strang ziehen und die Regeln, die Konzepte, einer Schule mit unterstützten, sagt Vertrauenslehrer Haag: „Sonst kann man so etwas nicht durchziehen.“ Denn die Lehrer seien die Vorbilder der Kinder, ergänzt Schulleiterin Jordan: „Man kann nicht Pünktlichkeit und Disziplin verlangen, wenn Lehrer selber zu spät kommen oder Arbeiten der Schüler erst nach Wochen zurückgeben.“ Das verlangt großen persönlichen Einsatz: Murats Lehrerin macht sich auf den Weg. Sie wird den Schulschwänzer, der am Telefon nicht zur Schule gelockt werden konnte, nun persönlich abholen.