: Das Geheimnis entschlüsseln
PHILOSOPHIE Eli Friedlander hat ein einmaliges Porträt Walter Benjamins geschrieben, das den systematischen Kern seines Denkens von den frühen Schriften bis zum Fragment gebliebenen Passagenwerk offenlegt
VON MICHA BRUMLIK
Der Name Walter Benjamins, der sich intensiv mit der Aura von Kunstwerken befasst hat, ist selbst von einer Aura umgeben. Der Kritischen Theorie – also einer Synthese aus marxscher Gesellschaftstheorie und freudscher Psychoanalyse – zugerechnet, seiner inkonsequenten Parteilichkeit für den Kommunismus wegen unter heutigen Radikalen geschätzt und seines letztlich von den Nationalsozialisten verursachten Todes wegen betrauert, umweht ihn und sein Werk noch immer ein Hauch des Geheimnisvollen. Das vom israelischen Künstler Dani Karavan gestaltete, an der französisch-spanischen Grenze in Port Bou platzierte Denkmal verstärkt diesen Eindruck.
Freilich war Walter Benjamin, der heute gerne als Kulturkritiker und Kulturtheoretiker gelesen wird, ein Philosoph – und der Philosophie geht es allemal auch um Wahrheitsfragen. Wer den Philosophen Walter Benjamin und die von ihm behaupteten Wahrheitsansprüche in der Sache nachvollziehen möchte, kann jetzt – nach den Biografien von Werner Fuld und Jean-Michel Palmier – auf das soeben erschienene Porträt des an der Universität Tel Aviv forschenden Philosophen Eli Friedlander zurückgreifen. Wer dieses Buch studiert, wird freilich Überraschungen erleben, die das liebgewordene Bild vom jüdisch-theologisch inspirierten kritischen Theoretiker erschüttern.
Friedlander, der bisher mit Arbeiten zu Wittgenstein und Rousseau hervorgetreten ist, geht es um den systematischen Kern dieses Denkens. Diesen Kern herauszuarbeiten, rekonstruiert Friedlander vor allem das postum erschienene, noch immer vor allem als Gerücht bekannte „Passagenwerk“. Der Philosoph freilich, dessen Gedanken vor dem Hintergrund des Passagenwerks mit schlüssigen Bezügen auch zu seinen frühesten Publikationen hier erscheinen, hat mit dem theologisch inspirierten Marxisten der üblichen Rezeption nur noch wenig zu tun. Vielmehr wird jetzt deutlich, wie sehr Benjamin sich an Immanuel Kant und dessen Ästhetik abarbeitete, vor allem aber, wie viel er Goethe – und zwar keineswegs nur dem Goethe der „Wahlverwandtschaften“, sondern dem Autor der Farbenlehre und dem Theoretiker der „Urpflanze“ – verdankt.
Mehr noch: Wenn Friedlanders Rekonstruktion stimmig ist, rückt Benjamin – ohne dass doch deren Namen auch nur erwähnt würden – an die Seite des späten Heidegger und dessen Schüler Gadamer, denen es beiden um die Frage nach der Wahrheit des Seins in der Geschichte ging. Friedlander, durch das Studium Wittgensteins und der analytischen Philosophie geschult, vermutet zunächst, dass Benjamin die sich in der Geschichte ereignende Wahrheit „naturalistisch als Selbstausdruck der Natur in menschlichen Angelegenheiten“ verstehe. Wahrheit aber ist demnach als „Einheit des Seins, die in der Realität selbst erkannt wird“, zu verstehen. Diese, frühesten Schriften entnommenen Gedanken ziehen – um diesen Nachweis ist Friedlander bemüht – sich in die verschiedenen fragmentarischen Teile des Passagenwerks durch.
Zu verstehen, warum ausgerechnet eine solche Theorie der Wahrheit dazu führen soll, dass als Gegenstand der Geschichte nur jenes gelten könne, „an dem die Erkenntnis als dessen Rettung vollzogen wird“, ist Thema des in neun großen Kapiteln aufgebauten Buches. In diesen Abschnitten lernt man Benjamin nicht nur als Vertreter einer eigenen Anthropologie von Leib und Körper, von Raum und Distanz sowie von Traum und Mythos kennen, sondern vor allem als einen Philosophen, der das in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts zentrale Prinzip der Konstruktion systematisch entfaltete. Gerade, indem die denkende Konstruktion des Gegenstands der Geschichte auf deren verstehenden Nachvollzug verzichtet, wird sie deren Wahrheit, die allemal auch eine praktische, revolutionäre Wahrheit ist, gerecht.
Indem der materialistische, der theologisch orientierte Theoretiker, nach Benjamin: „der Dialektiker“, die Geschichte notwendig als „Gefahrenkonstellation“ betrachtet, ist er ständig dabei, diese Gefahr abzuwenden. Das, nichts anderes heißt es, einen historischen Sachverhalt zu „konstruieren“. Das hat mit „Rekonstruktion“ nichts zu tun, denn: wer den historischen Sachverhalt so konstruiert, muss ihn vorher zerstört, „destruiert“ haben. So und nur so kann er der Geschichte das abgewinnen, was ihren katastrophischen Verlauf zum Stillstand bringen könnte.
Friedlanders bisher einmalige Darstellung von Benjamins Philosophie als eines in sich schlüssigen Systems verdient es, aufmerksam studiert zu werden. Kritischer Fragen nach der Wahrheit dieser Sprach-, Geschichts- und Erkenntnistheorie hat sich der Autor enthalten. Ob Benjamin in der Sache auch heute noch überzeugt, muss das lesende Publikum entscheiden.
■ Eli Friedlander: „Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait“. Aus d. Engl. v. C. Krüger. C. H. Beck, München 2013, 317 S., 26,95 Euro