: Der liebenswerte Diktator
AUFSTEIGERMACHER Fußballtrainer Holger Stanislawski ist fast am Ziel: Noch ein Sieg und sein FC St. Pauli ist wieder in der Bundesliga. Sein Erfolgsrezept: sich selbst ständig neu zu erfinden. Abwechslung ist seine leistungssteigernde Substanz. Damit gehen alle über ihre Grenzen – wie er selbst
■ Geboren ist Holger Stanislawski in Hamburg. Das Fußballspielen lernte er zunächst als Achtjähriger beim Bramfelder SV.
■ Mit dem Hamburger SV wurde er A-Jugend-Meister in der Regionalliga Nord.
■ Mit dem SC Concordia stieg Stanislawski 2003 in die Oberliga Nord auf, die damalige Vierte Liga.
■ Für den FC St. Pauli bestritt der Innenverteidiger von Juni 1993 bis Mai 2004 260 Pflichtspiele, davon 79 in der Ersten Liga.
■ Er ist einer der „Weltpokalsiegerbesieger“, die in der Saison 2001/2001 den FC Bayern München mit 2 : 1 schlugen.
■ Ein Bänderriss im Knie beendete Stanislawskis Karriere.
■ Im Rahmen einer Umschulung zum Sportmanager kehrte der gelernte Masseur zum FC St. Pauli zurück, wurde sportlicher Leiter und Vizepräsident.
■ Trainer Andreas Bergmann beerbte er 2006, sein Assistent ist seitdem sein ehemaliger Mitspieler André Trulsen. Am Saisonende stieg St. Pauli 2007 in die Zweite Bundesliga auf.
■ Den Cheftrainer-Posten räumen musste Stanislawski in der Saison 2007/2008, als er den Trainer-Lehrgang beim DFB absolvierte und als Jahrgangsbester abschloss.
VON RAINER SCHÄFER
Er steht im Wald, mit einer mächtigen Stoppuhr in der Hand, seine Augen funkeln, wenn seine Profis an ihm vorbeikeuchen. Runde um Runde drehen sie im Niendorfer Gehege, dem Naherholungspark, in dem Holger Stanislawski seine Profis fit trimmt. Stanislawski treibt sie an, da kann er hart sein wie Felix Magath. Während er Zahlen von der Stoppuhr abliest, schlendern Spaziergänger vorbei. Für alle hat er einen Gruß, einen Spruch auf den Lippen. „Stani“, wie er von allen gerufen wird, könnte mit seinen schnoddrigen Sprüchen auch auf dem Fischmarkt Aal oder Kübelpflanzen verkaufen. Er kommt immer direkt herüber, ohne Filter, mit voller Wirkung.
Im Fußball bringt er zur Perfektion, was er am besten kann: Arbeit und Spaß zu verbinden, eine eher unbekannte Variante im deutschen Profisport. Stanislawski hat damit Erfolg, innerhalb von drei Jahren führte er den FC St. Pauli aus der Regionalliga zurück an die Schwelle zur Ersten Liga. Er gilt als eine der Trainer-Entdeckungen.
Stanislawski ist schlank, drahtig, mit der grauen Wollmütze über dem kahlen Kopf und dem Stoppel-Kinnbart könnte er bei jedem DJ-Battle antreten. Der Umgang zwischen Trainer und Spielern ist locker, manchmal lässig, trotzdem ist sein Team sehr diszipliniert. „Ich bin der Typ liebenswerter Diktator, ich habe gerne ein gutes Arbeitsklima mit den Spielern. Dann sind sie auch bereit, über Grenzen zu gehen, auch wenn es richtig hart wird“, erklärt der 40-Jährige.
Vor allem seine Saisonvorbereitung ist berüchtigt. Absolute körperliche Fitness, davon hält Stanislawski so viel wie der Schinder Magath. Aber seine Profis funktionieren nicht, weil sie Angst vor dem Trainer haben und seinen Zynismus fürchten. Es ist Überzeugung, die seine Profis anspornt. Und wenn es sein muss, kann Stanislawski Strafpredigten im Tonfall eines Hafenarbeiters halten, bei denen selbst abgehärtete Profis weiche Knie bekommen. Aber wenn einer seiner Jungs Probleme hat, ist er für ihn da, dann kann er die halbe Nacht mit ihm reden. Dann ist er der Pädagoge aus dem Hamburger Randbezirk Rahlstedt: verständnisvoll, aufmerksam.
Dass Stanislawskis Eignung für den Trainerjob entdeckt wurde, war Zufall. Als Manager gehörte er dem Präsidium an, als der FC St. Pauli im Sommer 2006 holprig in die Regionalliga-Saison startete. Im November entließ er Trainer Andreas Bergmann und übernahm seinen Job, aushilfsweise. Er schaffte es sofort, das Potenzial des gut bestückten Kaders zur Entfaltung zu bringen. Der FC St. Pauli stieg im Frühjahr 2007 in die Zweite Liga auf, „wenn wir das nicht geschafft hätten, wäre ich Sportchef geblieben“.
Stanislawski war nun Trainer, erfolgreich, aber ohne Lizenz. Co-Trainer Andre Trulsen wurde pro forma zum Cheftrainer befördert, Stanislawski wurde offiziell „Teamchef“. Nebenbei bastelte er an seiner Lizenz als DFB-Trainer, den elf Monate dauernden Kurs zum Fußballlehrer absolvierte Stanislawski von Montag bis Donnerstag in Köln, am Wochenende coachte er sein Team. Stanislawski stieß dabei an seine Grenzen: „Ich habe häufiger gedacht: Das packst du nicht mehr. Ich hatte öfter die Schnauze gestrichen voll. Ich war am Limit, über Monate.“ Wenn im Fernsehen ein Fußballspiel lief, wechselte Stanislawski sofort den Sender. „Man kann den Lehrgang und den Trainerjob nicht gleichzeitig und zu 100 Prozent machen“, kritisiert Stanislawski eine Regelung, die Trainer wie Markus Babbel den Job gekostet hat.
Aber St. Pauli wurde Neunter, Stanislawski schloss den Kurs als Jahrgangsbester ab. „Für mich ging es nur darum, meinen Job zu behalten und meine Ausbildung vernünftig zu machen“, sagt Stanislawski. Wenn die anderen abends auf ein Bierchen weggingen, blieb er im Wohnheim, galt als „Streber“. „Dabei“, sagt Stanislawski, „bin ich manchmal abends um acht in den Kleidern auf dem Bett eingeschlafen“.
Es war nicht die Theorie, die Stanislawski zum Jahrgangsbesten machte. Auf dem Platz aber hat er eine Ausstrahlung, dagegen verblassen Nationalspieler mit 101 Länderspielen wie Thomas Häßler. „Ich fühle mich sicher auf dem Platz, egal ob das bei St. Pauli ist oder in Barcelona wäre“, sagt Stanislawski. „Wenn du unsicher bist, bist du nicht geeignet für den Job.“
Noch steht er beim FC St. Pauli an der Seitenlinie. Stanislawski kennt den Millerntor-Klub bestens. Als knallharter Abwehrspieler und Kapitän war er auch dabei, als der FC von 2001 bis 2003 zuletzt in der ersten Liga spielte. Vermutlich hätte der Spieler Stanislawski unter dem Trainer Stanislawski Probleme gehabt: Als Profi mussten für ihn Aufwand und Ertrag immer im richtigen Verhältnis stehen. Stanislawski hat geraucht, er wusste, an welcher Stelle er den Waldlauf abkürzen konnte. Deshalb kennt Stanislawski die launischen Spielerseelen bestens. „Nach zehn Jahren Profifußball bin ich mit allen Wassern gewaschen“, lautet seine Selbstanalyse. „Ich merke schnell, wenn die Spieler mir was erzählen wollen. Ich will Leistung und Erfolge sehen.“ Er kennt die kleinen Sünden der Fußballprofis, er duldet sie, wenn sie die großen Aufgaben bewältigen. Bei ihm muss keiner auf die Toilette schleichen, um heimlich zu rauchen – solange er im Training an den Nichtrauchern vorbeizieht.
Als Spieler war Stanislawski ein Mann der rustikalen Mittel, als Trainer lässt er attraktiven Erlebnisfußball spielen. „Mich freut es immer, wenn Mannschaften oben stehen, die viele Tore schießen“, sagt er. „Ich finde diese Weisheit albern, dass die Defensive Meisterschaften holt. Die gilt es möglichst oft zu widerlegen.“
Tatsächlich wird unter Stanislawski wieder Fußball gespielt am Millerntor. Fanfolklore, Kampf und Glück – das sind nicht mehr die Grundlagen des Spiels am Millerntor. „Sehr schön“ findet Stanislawski, dass der Klub nicht mehr von seinem Kult-Image zehren muss. „Wir sind ein besonderer Verein. Aber sich nur auf das Image zu verlassen, dass wir die Freibeuter der Liga sind, das geht nicht.“ „Fußball“, sagt Stanislawski, „ist auch keine Sozialutopie“. Ein Satz, den nicht alle gerne hören. Aber 2004 hat er Monate erlebt, da war der Klub so klamm, dass er nicht mehr wusste, wie sie die Gebühren der Müllabfuhr bezahlen sollten. „Ich bin ein gebranntes Kind“, sagt er. „Wir müssen uns auch als Wirtschaftsunternehmen begreifen, das sich den Marktgegebenheiten anpasst.“
Dass Chaos und Eitelkeiten zu diesem Verein gehören wie die Wiederkehr der Jahreszeiten zum Kreislauf der Natur, dass die im Klub angelegten Selbstzerfleischungsviren immer wieder aktiv werden, hat Stanislawski inzwischen akzeptiert. „Hier muss es so sein, dass es alle paar Monate mal richtig kracht und der große Keulenschlag kommt. Gehört dazu, bei diesem Klub.“ Ihn als kultiges Gegenmodell zur etablierten Fußballordnung zu mystifizieren, hält Stanislawski aber für unangebracht: „Kultklub finde ich schon fast negativ.“
Im Moment ist Stanislawski einer der gefragten Trainer im deutschen Fußball. Es sieht so aus, als bleibe er noch eine Weile auf St. Pauli. Aber er ist kein Träumer, er weiß, dass Trainer wie Werders Thomas Schaaf Ausnahmen sind, die einen Klub über viele Jahre prägen. Über drei Jahre hat Stanislawski einen steilen Aufstieg hingelegt, er hat dafür viel gearbeitet, manchmal zu viel. Wenn er gut gelaunt um die Ecke kommt, dann fällt nicht gleich auf, wie müde er aussieht. Stanislawski raucht, er hat einen Kaffeeverbrauch wie ein vielköpfiger Debattierkreis. Er ist einer der Trainer, die nur schwer abschalten können.
Manchmal steht er nachts auf und macht sich Notizen, oft sind es Ideen, wie er das Training verbessern kann. Er lässt immer mehr in Kleingruppen trainieren, in denen die Spieler ganz individuell geschult werden. Was ihn von den meisten Trainern unterscheidet: Er erfindet sich ständig neu, wie ein Schauspieler ändert er seine Rolle. Routine ist ein Gift für ihn, das besondere Leistungen verhindert. Stanislawski ist nicht berechenbar, auch nicht für seine Spieler. Wenn es sein muss, dann legt er aus dem Stand schon mal eine Breakdance-Einlage hin, um sie mitzureißen. Es kommt vor, dass er seine Profis direkt vor dem Anpfiff in einen dunklen Raum holt, in dem Kerzen brennen und aus dem Ghettoblaster Techno hämmert: Stanislawskis Soundtrack zum Aufstieg.
Stanislawski gähnt, aber es dauert nie lange, bis der Schalk in ihm die Müdigkeit durchbricht. Vor kurzem hat er eine Gitarre bekommen, von seinem Spieler Andreas Biermann. Stanislawski übt, auch um mal eine Stunde abschalten zu können. „Ich hoffe, dass ich im Sommer in der Fußgängerzone neben den Panflötenspielern ein bisschen Urlaubsgeld dazuverdienen kann“, scherzt er. Wer ihn kennt, weiß: Es ist ihm zuzutrauen.