: Eine Motivsuche
Erst das gesellschaftliche und politische Umfeld macht eine Tat zu einem Skandal
VON BETTINA GAUS
Der Überfall auf den 37-jährigen deutschen Ingenieur in Potsdam ist kein Skandal. Seine Folgen sind tragisch für das Opfer und seine Angehörigen, sie sind traurig für seinen Freundeskreis. Aber eben kein Skandal. Kein Gewaltverbrechen ist das für sich betrachtet, nicht einmal ein rassistisch motiviertes. Es gibt überhaupt keine Handlung, die als solche skandalös ist. Erst das politische und gesellschaftliche Umfeld, in dem sie stattfindet, können sie dazu machen – und die Reaktionen darauf.
Das gilt für Ehebruch ebenso wie für Mord, Apostasie, die Tötung behinderter Babys und den öffentlichen Kampf von Christen gegen Löwen. Skandal ist untrennbar mit Norm verbunden. Hängt also ausschließlich von dem Wertesystem einer Gesellschaft ab, in der eine Handlung begangen wird.
Bisher liegen die genauen Umstände der Tat im Dunkeln, die einen deutschen Familienvater, der in Äthiopien geboren wurde, auf die Intensivstation gebracht haben. Falls die Täter betrunken waren, erinnern sie sich möglicherweise nicht einmal selbst an den Hergang des Geschehens. Polizei und Staatsanwaltschaft haben noch viel Arbeit vor sich.
Aber nehmen wir einmal einen nach den bisherigen Erkenntnissen unwahrscheinlichen Verlauf der Ereignisse als gegeben an: Die beiden Verdächtigen und das Opfer verbrachten einen harmonischen, netten Abend miteinander, in dessen Verlauf sie gar nicht merkten, dass sie alle erheblich mehr Alkohol getrunken hatten, als gut für sie war. Auf dem Heimweg kippte die Stimmung.
Der Ingenieur wurde streitlustig und beleidigend. Die beiden anderen ließen sich das nicht gefallen. Einer stieß das böseste Schimpfwort aus, das ihm gerade einfiel, und das fiel ihm wegen der schwarzen Hautfarbe des Zechkumpans ein, die hierzulande eben nicht die Regel ist, sondern die Ausnahme: „Scheißnigger.“
Im nüchternen Zustand hätte er das nie gesagt. Im Gegenteil. Er verabscheut jede Form des Rassismus. Er selbst oder der Dritte im Bunde versetzte, womöglich gar in Notwehr, dem Mann, der den Streit begonnen hatte, nur einen einzigen Schlag. Leider traf der das Opfer so unglücklich, dass dieses nun in Lebensgefahr schwebt. Das hat der Täter wahrlich nicht gewollt.
Es könnte so gewesen sein. Vermutlich war es nicht so – aber, ja: So könnte es gewesen sein. Es ist übrigens auch durchaus möglich, dass die Verdächtigen tatsächlich unschuldig sind. Und dass sich alles ganz anders und mit anderen Beteiligten abgespielt hat. Das zu klären ist die Aufgabe eines Gerichts. Aber wenn sich alles so zugetragen hätte wie in dem oben geschilderten Szenario: Würde das bedeuten, dass Rassismus in diesem Fall eine allenfalls untergeordnete Rolle spielt?
Ersetzen wir „Scheißnigger“ durch „Scheißjude“. Ist es vorstellbar, dass der brandenburgische Innenminister die Initiative des Generalbundesanwalts als überzogen bezeichnet hätte? Nein, das ist nicht vorstellbar. Beim besten Willen nicht. Hätte der Bundesinnenminister über die Gefahren geredet, denen auch blonde und blauäugige Menschen ausgesetzt sind, wenn ein schwarzäugiger, dunkelhaariger Jude das Opfer gewesen wäre? Bestimmt nicht.
Und wie groß wäre die Bereitschaft zur Differenzierung wohl gewesen, wenn zwei Türken einen Deutschen ins Koma geprügelt und ihn dabei als „ungläubigen Hund“ bezeichnet hätten? Hätten sich Prominente finden lassen, die eine rege Diskussion über Integrationsprobleme sowie über die Gefahren von Parallelgesellschaften als überflüssig bezeichnet hätten? Nein.
Es ist wahr: Blonde und blauäugige Menschen werden gelegentlich Opfer von abscheulichen Verbrechen. Das kann traurig sein, tragisch, empörend, Aufsehen erregend. Aber niemals ein Anlass für die Gesellschaft, ihr Wertesystem zu überprüfen – es sei denn, die Opfer gehörten zu irgendeiner Minderheit, und es war erst dieser Status, der sie zu Opfern hat werden lassen. Soll heißen: Sie waren beispielsweise schwul, behindert oder drogensüchtig.
Verbrechen an Durchschnittsbürgern müssen erheblich spektakulärer sein als Gewalttaten an Außenseitern, sollen sie Schlagzeilen produzieren. Das ist nicht diskriminierend. Das nennt man Minderheitenschutz. Deshalb ist es auch richtig, wenn sich eine Gesellschaft in stärkerem Maße für einen so genannten Ehrenmord interessiert, der die Folge konkurrierender Wertesysteme ist, als für einen herkömmlichen Gattenmord, begangen aus Ekel und Überdruss. Letzterer bedroht nicht das Koordinatensystem der Werte – also die innere Sicherheit – einer Gesellschaft.
Ein Mordversuch, der auch nur möglicherweise rassistische Motive hat, tut das hingegen sehr wohl, ebenso wie ein so genannter Ehrenmord. Deshalb sind die Reaktionen auf die Tat in Potsdam aufschlussreich. Das Opfer wurde sofort zum „Deutschäthiopier“. Ein unsinniger Begriff, der nur einem einzigen Zweck dient: der Abgrenzung von der Mehrheit des Volkes. Der Mann ist Deutscher. Punkt.
Die Öffentlichkeit hat bislang wenig über Einzelheiten der Tatumstände erfahren. Aber etwas weiß sie: Das Opfer war besoffen. Ist diese Information eigentlich mit dem Persönlichkeitsschutz vereinbar? Wäre sie veröffentlicht worden, wenn der Verletzte weiß wäre? Wie kommen seine Kinder damit zurecht? Und: Dient die Kenntnis des Blutalkoholspiegels irgendeinem anderen Zweck als dem, das Opfer auf irgendeine Weise eben doch – mindestens – zum Mittäter zu machen?
Es gibt einen Unterschied zwischen der juristischen Würdigung einer Tat und dem öffentlichen Umgang damit. Den – realen – Tätern muss jeder mildernde Umstand zugebilligt werden, den das Gesetz vorsieht. Der Sehnsucht der Gesellschaft nach Entlastung wohnt hingegen oft ein diskriminierendes Element inne. Das ist ein Skandal. Oder sollte doch zumindest einer sein.