: Die Kunst der Selbstinszenierung
KÜNSTLERGENIE Die große Ernst-Ludwig-Kirchner-Retrospektive im Frankfurter Städel-Museum
VON ANGELA HOHMANN
Er war einer der bedeutendsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts und eine extrem widersprüchliche Figur: der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938). Mit über 180 Werken – Gemälden, Zeichnungen, Holzschnitten und Skulpturen – präsentiert das Frankfurter Städel nun seit 30 Jahren erstmals wieder eine große Retrospektive in Deutschland. Basis für die chronologisch an Kirchners Lebensstationen orientierte Ausstellung in 7 Kapiteln ist der umfangreiche Bestand des Hauses, das mit ersten Ankäufen schon 1919 Pionier unter den institutionellen Sammlern von Kirchner war. Dazu kommen Werke aus privaten und musealen Sammlungen in aller Welt.
Den Lebensstationen vorgeschaltet sind zwei der Persönlichkeit Kirchners gewidmete Räume. Der erste ist voller Zitate, die in ihrer Widersprüchlichkeit die Ambivalenz dieses genialen Künstlers verdeutlichen. Der zweite versammelt bedeutende Selbstporträts, die ihn mal in rasch dahingeworfenen Zeichenstrichen als einsame Künstlerfigur, mal in Öl mit grünem Gesicht, langen Wimpern über blauen Augen und sinnlich rotem Mund stilisieren. Die öffentliche Selbstinszenierung war wesentlicher Bestandteil von Kirchners Vorstellung seines Künstlerdasein, besonders da er privat schwere Krisen durchlitt.
Zeit seines Lebens versuchte er seine Rezeption zu steuern. Dazu erfand er den Kritiker Louis de Marsalle, unter dessen Pseudonym er verschiedene Aufsätze über sein Werk veröffentlichte. Außerdem gewährte er nur solchen Kritikern das Recht zur kostenlosen Reproduktion seiner Bilder, die bereit waren, sich den Abdruck ihrer Texte zuvor von ihm genehmigen zu lassen. „Die Fabrikmarke meiner Kunst ist E. L. Kirchner“, schrieb er 1924, eine Aussage, die man, wie der Kurator Dr. Felix Krämer zu Recht bemerkt, eher einem Popartkünstler wie Warhol als einem Maler des frühen 20. Jahrhunderts zutrauen würde.
Besonders aufschlussreich ist das weniger bekannte Frühwerk Kirchners, das den Auftakt der Ausstellungskapitel bildet und das deutlich die künstlerische Suche des Autodidakten erkennen lässt, der Inspirationen bei van Gogh, Matisse und Munch findet. In diese frühe Phase fällt das Gemälde „Liegende Frau in weißem Hemd“ (1909) aus dem Bestand des Städel, das nach der Restauration erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Bislang als eher unbedeutend eingestuft, war es auf der Rückseite des Bildes „Nackte Frau am Fenster“ aus den Jahren 1922/23 versteckt und wurde sozusagen neu entdeckt. Leinwände doppelt zu bemalen gehörte zu den Marotten des Künstlers: „Auch ich muss etwas sparen jetzt, und das Material ist sehr kostspielig geworden. Aber die Leinwand hat Gott sei Dank 2 Seiten“, schrieb Kirchner 1919.
Der dritte Teil der Ausstellung konzentriert sich auf die expressionistischen Werke Kirchners in den Dresdner Jahren. Zusammen mit Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmitt-Rottluff gründete er dort 1905 die Künstlergruppe „Die Brücke“, die dem konservativ-akademischen Kunstbetrieb des wilhelminischen Deutschlands ihre expressiven Farben, perspektivisch verzerrten Kompositionen und ihr antibürgerlich-exzessives Künstlerleben entgegenschleuderte. Deutlich waren ihre Methoden unkonventionell: Anstatt professionelle Modelle in stilisierten Posen zu malen, porträtierten sie ihre Lebensgefährtinnen in möglichst natürlichen Bewegungen. Ein Höhepunkt dieser Schaffensphase ist das Gemälde „Frau mit Hut“, bei dem sich Kirchner an der im Städel befindlichen „Venus“ von Cranach dem Älteren orientiert und seine damalige Lebensgefährtin Dodo nackt mit schwarzem Hut und roten Schuhe selbstbewusst und mondän porträtiert – ein Skandal zu damaliger Zeit.
1911 folgte Kirchners Umzug nach Berlin, wo er seine Lebensgefährtin Erna Schilling kennenlernte. Im Schaffen Kirchners erfolgt nun eine Zäsur. Er hasste Berlin, aber es inspirierte ihn zu einem neuen Malstil und den weltbekannten „Straßenszenen“. Mit überlangen Körpern, giftigen Neonlichtfarben und fedrig ausgefransten Konturen versucht er die elektrisierende Hektik und das affektiert-vulgäre Treiben der Großstadt in die Malerei zu übersetzen. Höhepunkte der Berlinzeit bilden neben den Straßenszenen Gemälde wie „Toilette vor dem Spiegel“ sowie das Triptychon „Die Badenden“. Erstmalig nach Kirchners Tod konnten die drei Teile hier aus verschiedenen Leihgaben wieder vereint werden.
Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs – Kirchner meldete sich als Freiwilliger – führt zum Nervenzusammenbruch. Fortan wird Kirchner in verschiedenen Sanatorien behandelt, medikamentenabhängig und zieht 1917 nach Davos, wo er bis zu seinem Freitod 1938 bleiben wird. Die Erfahrungen als Rekrut fließen in Gemälde wie „Das Soldatenbad“ (1915) ein, der Sanatoriumsalltag wird zum Motiv ebenso wie die Alpenlandschaft, der Malstil wieder flächiger und ruhiger.
Den Abschluss der Ausstellung, die für sich in Anspruch nimmt, das überraschende Spätwerk Kirchners zum ersten Mal in großem Umfang im Kontext des Gesamtwerks zu zeigen, bilden die Gemälde im „neuen Stil“, der sich von allem, was Kirchner zuvor gemalt hat, unterscheiden: In überwiegend Rosa-, Braun- und Lavendeltönen überlappen sich abstrakte Linien und Farbflächen zu Figuren von fast grafischer Wirkung, die Kirchners Arbeiten in die Nähe des Spätwerks von Picasso rücken und Ähnlichkeiten zu Miró und sogar Dalí aufweisen.
Voller Gram erlebt Kirchner den Angriff der Nationalsozialisten auf sein Werk: Nicht weniger als 639 Gemälde wurden 1937 aus den Museen entfernt – was zeigt, wie umfangreich Kirchners Werk schon zu Lebzeiten in den Institutionen verankert war –, 32 davon wurden im Rahmen der Ausstellung „Entartete Kunst“ verfemt. Als die deutsche Wehrmacht im März 1938 in Österreich einmarschierte und nur 20 Kilometer Luftlinie von Davos stationiert war, zerstörte Kirchner einen Teil seiner Bilder und setzte seinem Leben am Morgen des 15. Juni 1938 durch zwei Schüsse ins Herz ein Ende.
■ Bis 25. Juli, Städel Museum, Frankfurt, Katalog (Hatje Cantz) 39,90 €