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Archiv-Artikel

Massengrab Mittelmeer

ITALIEN Wieder ist ein Boot gesunken, wieder sind Dutzende Menschen ertrunken. Kurz nachdem ein umstrittenes Abkommen zwischen Libyen und Italien intensiviert wurde

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Nach dem verheerenden Schiffsunglück am 3. Oktober, bei dem mindestens 362 Menschen starben, ist am Freitag erneut ein Boot mit Flüchtlingen aus Afrika unweit der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa verunglückt. Von mindestens 35 Toten ist die Rede. Insgesamt waren in der vergangenen Woche an die 400 Menschen ertrunken. Und dennoch riskieren immer mehr Menschen ihr Leben, weil sie sich in Europa eine bessere Zukunft erhoffen.

Allein am Freitag und Samstag sind auf weiteren Schiffen in Lampedusa etwa 400 Flüchtlinge eingetroffen; das Lager auf der Insel steht mit 784 Insassen erneut vor dem Kollaps. Die Zahl der bisher im Jahr 2013 an Italiens Küsten gelandeten Boat People – vor allem aus Eritrea, Somalia und Syrien – übersteigt mittlerweile 30.000. Und der Strom dürfte sich so lange fortsetzen, wie günstige meteorologische Bedingungen die Überfahrten erlauben. Während auch nach der Revolution von 2011 Tunesien das Abkommen mit Italien zur Bekämpfung der Schlepperbanden umsetzt, können die Schleuser vor allem von den Häfen Suara und Misrata in Libyen aus bisher relativ ungestört agieren. Doch nach Angaben der Verunglückten wurde ihr Boot kurz nach dem Ablegen von Suara aus beschossen, anscheinend um es zu stoppen. Der libysche Regierungschef Ali Seidan kündigte am Sonntag an, die Vorwürfe untersuchen zu lassen.

Vor dem Hintergrund der beiden Tragödien der letzten Tage nimmt die Diskussion über Europas Flüchtlingspolitik an Schärfe zu. Maltas Ministerpräsident Joseph Muscat forderte die EU zum Handeln auf, er fügte hinzu: „Ich weiß nicht, wie viele Menschen noch sterben müssen, bevor etwas geschieht. Wie die Dinge im Moment stehen, machen wir unser eigenes Mittelmeer zum Friedhof.“

Auch Italiens Ministerpräsident Enrico Letta kündigte am Sonntag an, die Überwachung im Mittelmeer zu verstärken. „Am Montag startet Italien einen humanitären Militäreinsatz mit Schiffen und Flugzeugen, um den Teil des Mittelmeers, der in den letzten Tagen [für viele Flüchtlinge] zum Grab geworden ist, so weit wie möglich zu sichern“, sagte Letta in Rom. „Wir werden die Kräfte von Marine und Luftwaffe, die derzeit in der Straße von Sizilien im Einsatz sind, verdreifachen.“ Dies sei eine Überbrückungsmaßnahme vor einem erhofften größeren Engagement der Europäischen Union. Italien habe das Thema auf die Tagesordnung des Europäischen Rats am 24. Oktober gesetzt, erklärte er. Zudem forderte Letta eine Änderung des bisherigen italienischen Ausländergesetzes.

Zugleich aber berichten italienische Medien, eine Delegation des Innenministeriums habe mit den libyschen Behörden am 7. Oktober eine Wiederaufnahme der Patrouillen im Dreimeilenbereich vor der libyschen Küste vereinbart. Nach dem im Jahr 2008 geschlossenen Abkommen beider Staaten zur Flüchtlingsabwehr hatte Italien Libyen sechs Patrouillenboote gestiftet; unter Begleitung auch italienischer Polizisten sollen diese Boote, die gerade generalüberholt wurden, jetzt wieder auslaufen.

Damit würde die menschenrechtlich höchst umstrittene, seinerzeit von Silvio Berlusconi und Muammar al-Gaddafi auf den Weg gebrachte Kooperation wieder aufgenommen. Zwar verzichtet Italien mittlerweile auf die kollektive Rückschaffung von Flüchtlingen, die dem Land eine Verurteilung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingetragen hatte. Andererseits aber findet sich Libyen trotz der verheerenden Lage der Flüchtlinge in den dortigen Lagern und trotz der Tatsache, dass sie dort keinen Zugang zu Asylverfahren haben, erneut in der Rolle eines Hilfspolizisten für Italien und Europa wieder: ein Hilfspolizist mit dem Auftrag, die aus Bürgerkriegsstaaten und Diktaturen Geflohenen an ihrer Überfahrt zu hindern.