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Archiv-Artikel

„Was wir sehen, ist ein Rückfall“

Die Debatte um Integration ist populär geworden. Doch ihre Verkürzung auf türkisch-muslimische Zuwanderungwird der Vielfalt und den Herausforderungen des Themas nicht gerecht, meint der Migrationsforscher Rainer Ohliger

taz: Warum wird plötzlich so viel über Integration diskutiert? Die Fakten und Probleme haben sich in den letzten Jahren doch kaum verändert.

Rainer Ohliger: Das Zuwanderungsgesetz hat ja nicht nur Zuwanderungsregelungen geschaffen. Es ist auch ein Integrationsgesetz. Seit In-Kraft-Treten des Gesetzes im Jahr 2005 wurden für Neuzuwanderer Sprachkurse verbindlich. Durch die Debatten im Zusammenhang mit dem Gesetz spielte sich das Thema Integration nicht mehr auf den hinteren Seiten der Zeitungen, sondern auf der Titelseite ab.

Haben nicht vielmehr Ehrenmord und Bücher wie die von Necla Kelek zu Zwangsheirat und muslimischen Männern das Thema populär gemacht?

Ich würde sagen, es gibt eine strukturelle Ebene, die ich gerade skizziert habe, und es gibt dann Ereignisse wie die Fälle Sürüci und Rütli-Schule, die die Debatte enorm anheizen. Aber die strukturellen Probleme sind ja nicht neu. Neu ist, dass sie skandalisiert werden. Bedauerlich an der Arbeit von Kelek ist, dass sie so diskutiert wird, als handle es sich bei der Ausgestaltung der deutschen Einwanderungsgesellschaft vorwiegend um ein Türkenproblem. Diese Anatolisierung der Integrationsdebatte wird der Vielfalt des Themas und den Herausforderungen nur ungenügend gerecht.

Welche Vielfalt meinen Sie?

Die Vielfalt der Einwanderung: da gibt es russische Juden, Flüchtlinge aus dem Bosnienkrieg, Arbeitsmigranten aus Italien, Spanien, der Türkei und darüber hinaus sonstige EU-Ausländer. Da sind aber auch Saisonarbeitskräfte, ausländische Studierende und geschätzt etwa 1 bis 1,5 Millionen Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Und nicht zuletzt sind seit 1990 weit mehr als zwei Millionen Aussiedler nach Deutschland gekommen. Es handelt sich um eine sehr komplexe Einwanderungsgesellschaft, die nicht auf die muslimisch-türkischen Einwanderer reduziert werden kann.

Aber die Debatte wurde dadurch immerhin populärer.

Auch die Massenmedien und der Boulevard haben das Thema entdeckt. Das regt die öffentliche Debatte sicherlich an. Aber es ist kein Fortschritt im Vergleich zum Zeitraum vor fünf Jahren, als das Zuwanderungsgesetz diskutiert wurde. Damals war man weiter. Man sprach über aktive Integration und Chancen für Zuwanderer in der deutschen Gesellschaft. Was wir jetzt sehen, ist ein Rückfall, und zwar vor allem auf der rhetorisch-politischen Ebene: Nach dem Sürüci-Urteil wurde beispielsweise von politischer Seite die kollektive Abschiebung der Familie gefordert. Das sendet extrem negative Signale an alle Einwanderer und ist weder dem Rechtsfrieden noch der Integration von Einwanderern förderlich.

Wie buchstabiert man Zuwanderung in der Bundesrepublik?

In der Regel wird sie immer noch als Problem gesehen. Sie wird selten unter dem Vorzeichen diskutiert, was wir durch Einwanderer gewinnen können. Es sind latente und manifeste Ängste vorhanden, die mobilisiert und bedient werden können. Eine konstruktive Diskussion gab es nur, als es um die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte ging.

Wir müssen aber nicht den indischen Computerspezialisten integrieren, sondern den arbeitslosen Jugendlichen aus der dritten Generation türkischer Zuwanderer.

Ja, die Mehrzahl der Einwanderer ist nicht hochspezialisiert oder gut ausgebildet. Auch deren Kinder zeigen meist nur mäßige Bildungserfolge. Es handelt sich hier um ein soziales und wirtschaftliches Problem, das ebenso die deutschen Unterschichten betrifft. Deshalb sollten wir auch eher über soziale als über ethnische Fragen diskutieren.

Aber das Soziale verknüpft sich bei Migranten mit dem Ethnischen. Das erleichtert die Ausgrenzung.

Es geht aber schon lange nicht mehr um die Frage, ob wir Einwanderung und Integration wollen oder nicht. Die Einwanderer sind hier, und zwar in der Regel mit einem dauerhaften Aufenthaltsstatus, zum Teil sind sie qua Einbürgerung Deutsche. Die meisten seit dem Jahr 2000 hier geborenen Kinder von Migranten erhalten in der Regel qua Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Frage ist doch: Wie gelingt es, Einwanderer und ihre Kinder zu einem funktionsfähigen und aktiven Teil der Gesellschaft zu machen? Wie kann man einer Gruppe, die schlechtere soziale und wirtschaftliche Voraussetzungen hat, Perspektiven und Aufstiegschancen in der Gesellschaft einräumen?

Haben Migranten eine Lobby?

Anders als bei den sozialen Bewegungen wie der Arbeiterbewegung oder der Frauenbewegung gibt es keine wirklich einflussreiche soziale Bewegung unter Migranten. Was weitgehend fehlt und fehlte, ist eine eigenständige Mobilisierung und öffentliche Artikulation der Migranten. Es gibt allerdings Ansätze dazu, teils durch die üblichen Verdächtigen wie Özdemir, Zaimoglu oder auch Kelek. Aber daraus wird keine soziale Bewegung entstehen, weil die Interessenlagen und die sozialen Probleme unter Einwanderern zu unterschiedlich sind.

Was wünschen Sie sich?

Ich wünsche mir eine klare Einwanderungs- und Integrationspolitik von Seiten der Mehrheitsgesellschaft und eine deutlich verstärkte Partizipation der Einwanderer. Dazu gehören meiner Meinung nach Investitionen im Bildungsbereich: in den Schulen und Kindergärten liegt einiges im Argen. Dazu gehört auch die Arbeit in den Communities und mit den Eltern. Jedoch sind die öffentlichen Kassen momentan leer, sodass die finanzielle Basis für eine aktive Integrationspolitik schmal ist.

INTERVIEW: EDITH KRESTA