: Verstörende Sachlichkeit
DOKUMENTATION Das Niederkämpfen der eigenen Natur als Manifest für das Leben: Peter Liechti hat sich in seiner Dokumentation „Bericht einer Mumie“ dem fiktiven Bericht eines Selbstmordes durch Verhungern genähert
VON ROBERT MATTHIES
Nüchtern und sachlich ist der Tonfall des Berichts. Ein dramatischer Monolog, das Protokoll eines tödlichen Selbstversuchs, ohne Klage, ohne Selbstmitleid und Sentimentalität. Von einer verstörenden Sachlichkeit ist die Novelle „Miira ni naru made“ („Bis ich zur Mumie werde“) des japanischen Autors und Theaterregisseurs Shimada Masahiko. 1991 erschien die Erzählung, die in Tagebuchform von einem radikalen Hungertod berichtet.
Eine wahre Geschichte: Zwei Monate hat es gedauert, bis ein 40-jähriger Japaner an den Folgen seiner selbstbestimmten Auszehrung gestorben ist. Gefunden wurde er in einer Holzhütte mitten in einem einsamen Moor, eine gut erhaltene Mumie nebst Tagebuch, darin das minutiöse Protokoll des 62 Tage währenden Sterbens. Gewidmet hat der selbsternannte Todeskandidat sein Werk „allen hungerstreikenden oder fastenden Menschen und den Anorektikern der Welt“. Das Motiv für den ungewöhnlichen Selbstmord: existenzieller Überdruss und eine Ethik totaler Verweigerung, ein radikaler Rückzug aus Leistungsgesellschaft, Konsum und überhaupt: nicht mehr Mitmachen.
Zum Schweizer Regisseur Peter Liechti ist die faszinierende Geschichte über das auf Masahikos Novelle basierende Hörstück „My Dear Mummy“ mit Musik nach Vorgaben des japanischen Avantgarde-Jazzers Otomo Yoshihide gelangt. Es war die beunruhigende Spannung des fast lakonischen Berichts, die den Filmemacher daraufhin nicht losgelassen hat.
Sein experimenteller Dokumentarfilm „The Sound of Insects. Bericht einer Mumie“ ist das eindrucksvolle Ergebnis von Liechtis Auseinandersetzung mit dem unbekannten Toten, eine dokumentarische Annäherung in 62 Akten an den auf einer wahren Begebenheit beruhenden fiktionalen Text. Dabei bebildert Liechti nicht einfach den ohnehin rätselhaft bleibenden Text, sondern lässt sich auf seine Dynamik ein, auf den Kampf zwischen einsamem Leiden und körperlicher Auflösung auf der einen Seite und der vegetativen Gleichgültigkeit der Natur auf der anderen, zwischen festem Entschluss und vitaler Physis.
Es ist diese Spannung, die Liechti über den Verlauf des immer fiebriger und sakraler werdenden Sterbe-Protokolls verfolgt. Sich selbst loszuwerden, ein härterer Kampf als erwartet.
Und so sieht man, untermalt vom nüchternen Tonfall des Tagebuchs und dezenter Musik, vor allem Nahaufnahmen vom rastlosen Leben ringsum die Hütte: Blätter, Sträucher und Insekten, den niederprasselnden Regen. Eine assoziative Ehrung des Toten, zugleich eine Feier des unvergänglichen Lebens. Eine Moral gibt Liechti dabei nicht an die Hand. Aber er öffnet ihr den Raum, indem er uns mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Und ihrer Kehrseite, der ewigen Wiederkehr.
Heute läuft der mit den Europäischen Dokumentarfilmpreis prämierte Film im Lichtmess.
■ Do, 6. 5., 20 Uhr, Lichtmess, Gaußstraße 25