: Sind Märchen von gestern?JA
TRADITION Demenzkranke fühlen sich wohl, wenn sie die Märchen ihrer Kindheit hören. Viele Eltern möchten sie ihren Kindern heute aber nicht mehr zumuten
Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.
Burkhard Meyer-Sickendiek, 45, ist Literaturwissenschaftler an der FU Berlin
Leider sind die Märchen unserer Kindheit von gestern. Die Kinderbücher von heute thematisieren etwa den adäquaten Umgang mit Mobbing im Kindergarten, die unnötige Angst beim Zahnarzt, die Angst im Dunkeln oder dass Kinder nicht mit Fremden mitgehen sollen. Diese Geschichten machen Kinder enorm selbstbewusst, lösen sich von Stereotypen und thematisieren auch Konflikte zwischen Kindern. All das fand sich in den Märchen der Gebrüder Grimm zweifellos noch nicht einmal in Ansätzen. Es braucht schon eine psychoanalytische Deutungsbereitschaft à la Bruno Bettelheim, um in den Grimm’schen Märchen ähnlich brauchbare Botschaften auszumachen. Allerdings sind seine Deutungen durchaus fragwürdig. Märchen könnten, so die These Bettelheims, die Entwicklung von Kindern deshalb positiv begleiten, weil sie bestimmte Stadien der psychischen und psychosexuellen Entwicklung des Kindes zur verschlüsselten Darstellung bringen würden. Denn Märchen thematisierten die Stadien der analen, oralen und der phallischen Phase. Deshalb deutet Bettelheim etwa die sieben Zwerge aus dem Märchen Schneewittchen noch als Phallussymbole. Im Allgemeinen funktionieren Märchen heute zwar sicherlich noch als wunderschönes Bildungsgut. Sie werden aber den Anforderungen einer zeitgemäßen Pädagogik sicher nicht mehr gerecht.
Katrin Rönicke, 31, ist Erziehungswissenschafterin, Mutter und bloggt für die FAZ
Natürlich sind Märchen zu einem großen Teil von gestern. Sogar von vorgestern! Sie sind in einer Zeit entstanden, in der man Kindern die Welt nahegebracht und Regeln vermittelt hat, indem man ihnen Angst machte statt Mut. Sie sind nicht selten voller alter, furchtbarer Rollenklischees, Gewalt und schwarzer Pädagogik. In „Rumpelstilzchen“ droht der König der Müllerstochter mit Mord. Doch am Ende – nachdem sie seinen Erpressungen nachgegeben hat – heiratet sie ihn, sie bekommen Kinder. Was ist das bitte für ein Weltbild? Eltern sollten Märchen nicht leichtfertig vorlesen, nach dem Motto „was uns nicht geschadet hat?“. Vor jedem Vorlesen steht das Selberlesen und die Frage: Ist das eine Moral von der Geschicht, die ich gut finde? Will ich das vermitteln? Sicher: Märchen sind ein Kulturgut und ich käme nicht auf die Idee, Ihnen dieses wegnehmen zu wollen. Aber manche verdienen ein FSK 16.
Christina Mohr, 44, ist taz-Leserin und hat den Streit per E-Mail kommentiert
Je älter ich werde, desto häufiger denke ich: Nicht alles, was alt ist, ist auch gut. Oder wichtig. Außer Frage steht, dass manche Märchen packende, spannende Storys sind. Ob sie deshalb auch wichtige Kulturgüter sind, an denen unsere Kinder reifen, bezweifle ich. Natürlich habe ich als Kind auch Märchen erzählt bekommen und selbst gelesen, fand sie aber immer auch seltsam aus der Zeit gefallen und realitätsfern. Mir ist bis heute nicht klar, welche Lehren ich aus „Hänsel und Gretel“, dem „Froschkönig“ oder „Dornröschen“ ziehen sollte. Gerade die einfältigen Gut/Böse-Kontraste und die angeblich positive Moral am Schluss lässt sich kaum auf kindliche Lebenswelten übertragen. Die Märchen stammen aus einer Zeit, in der Erzählungen noch als Machtinstrumente eingesetzt werden konnten – wir sollten froh sein, dass es heute nicht mehr so ist. Pippi Langstrumpf, Bibi Blocksberg oder Pumuckl sind zwar auch bei Licht betrachtet großer Quatsch, aber wenigstens zur Identifikation oder zum Nachspielen geeignet – von daher also auch noch wesentlich kreativer und kreativitätsfördernder als eine verstörende Geschichte wie „Das eigensinnige Kind“. Vielleicht ist ein weniger ehrfürchtiger Umgang mit Märchen angesagt: (Vor-)lesen ja – wie andere Quatsch- und Horrorgeschichten auch. Aber bitte nicht als unverzichtbares Kulturgut betrachten.
NEIN
Annette Schavan, 58, CDU-Politikerin und Honorarprofessorin an der FU BerlinDie Märchen unserer Kindheit gehören zum kulturellen Gedächtnis. Sie haben Spuren hinterlassen – in Bildern, in Redensarten, in der Musik und auch auf der Bühne. Kinder werden hellhörig bei Passagen, die ihnen fremd erscheinen. An dieser Stelle beginnt dann das Gespräch. Märchen werden nicht einfach nur gelesen, sie werden eben erzählt. Heute auch solche aus anderen Kulturen und natürlich zeitgenössische Märchen. Jede Generation schreibt ihre eigenen Märchen, aber trotzdem möchte keine Generation so einfach auf die märchenhaften Welten von früher verzichten.
Silke Fischer, 52, ist Direktorin des Deutschen Zentrums für Märchenkultur in Berlin Märchen erzählen von der glücklichen Überwindung von Widerständen. Ihre Inhalte werden auf der ganzen Welt verstanden. Sie vermitteln, dass es jeder schaffen kann, König zu werden, egal wie arm er ist. Märchen vermitteln universelle Botschaften: Mit Hilfsbereitschaft kommt man weiter, und man sollte sein Glück selbst in die Hand nehmen. Auch aktuelle Problemstellungen werden in Märchen thematisiert. Das Märchen vom Hasen und dem Igel etwa erzählt eine Mobbinggeschichte. Wir arbeiten seit dem vergangenen Jahr sehr erfolgreich mit Demenzpatienten. Die vertrauten Inhalte der Märchen sprechen ihr Langzeitgedächtnis auf emotionaler Ebene an. Die Patienten hören aufmerksam zu und fühlen sich deutlich wohler. Es hat sich gezeigt, dass typische Verhaltensweisen wie Apathie oder Aggressivität durch das Erzählen abgeschwächt werden. Hier sind Märchen Erinnerungsanker, denn wer die Märchen einmal gehört hat, vergisst sie sein Leben lang nicht. Märchen sind Nahrung für die Seele.
Heinz Rölleke, 76, ist Professor für Germanistik und Erzählforscher der Uni Wuppertal
Märchen sind zwar von gestern, aber schlechthin zeitlos, denn sie spiegeln nicht nur die menschlichen Urerfahrungen, sondern auch die Weltsicht früherer Epochen wider. Dieser Erfahrungsschatz, der wie kein anderer die frühkindliche Fantasie beflügelt, ist nirgendwo so gut aufgehoben wie in diesen symbolträchtigen Texten. Dies den Kindern vorzuenthalten, führt zu unabschätzbaren Defiziten in ihrer psychischen Entwicklung und verhindert die Vermittlung einer geradezu optimistischen Lebenseinstellung. Sogenannte Grausamkeiten gehören zur Vollständigkeit des vermittelten Weltbildes. Sie werden gerade von Kindern nicht als solche wahrgenommen, weil sie abstrakt bleiben und gegebenenfalls die Welt auch wieder ins Gleichgewicht bringen.
Maisha Eggers, 40, ist Erziehungswissenschaftlerin und GeschlechterforscherinMärchen geben Kindern die Gelegenheit, zu lernen. Sie thematisieren existenzielle Lebensfragen und bieten eine Vielfalt von Sprachbildern für ambivalente Gefühle. Es geht um Fragen zu Nähe und Distanz, um symbiotische Verschmelzung und Autonomie oder um die Versorgung und Zuwendung durch Eltern und Erzieher. Die Geschichten handeln aber auch von Enttäuschung, Zurückweisung oder sogar Vernachlässigung. Es geht darum, Grenzerfahrungen wie extreme finanzielle Not, etwa bei Hänsel und Gretel, oder körperliche Gewalt und Misshandlung, wie bei Aschenputtel, zu thematisieren. Die Konfrontation mit diesen Themen gehört zum Heranwachsen und ist Teil des komplexen Gefüges der sozialen Welt. Von Nutzen sind diese Erzählungen nur, wenn sie gestaltend gelesen werden. Kinder müssen auch verstehen, dass diese Geschichten in einer konstruierten Welt stattfinden.