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Der Blick geht nach vorne

LITERATUR Antonella Romeros Biographie von Esther Bejarano verzichtet darauf, die Musikerin und Auschwitzüberlebende zum Denkmal zu erheben. Entstanden ist ein vielschichtiges Porträt

Die Musik wird zu einer Form des Widerstandes gegen die erlittenen Ungeheuerlichkeiten

Ein beeindruckendes Zeugnis sind die vor über 30 Jahren aufgeschriebenen Erinnerungen der Musikerin und Auschwitzüberlebenden Esther Bejarano. Erstmals liegen sie in dem im Hamburger Laika Verlag erschienenen Buch „Esther Bejarano: Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts“ in deutscher Fassung vor.

Bejarano lebt heute in Hamburg, aber entstanden ist der Band auf Initiative der italienischen Autorin und Journalistin Antonella Romero: Diese hatte Bejarano bei einem Konzert des antifaschistischen Musikprojektes „Per la vida“ im italienischen Piemont gesehen. Die heute 88-jährige Bejarano gab das Konzert gemeinsam mit ihrer Tochter Edna, ihrem Sohn Joram und den Rappern Kutlu Yurtseven und Rosario Pennino von der Kölner Microphone Mafia.

Ergänzt werden die Erinnerungen durch ein Protokoll eines Gesprächs, das Romero mit Bejarano geführt hat sowie durch Fotos, ein Nachwort des italienischen Historikers Bruno Maida und eine persönliche Einlassung der Journalistin Peggy Parnass. Beigelegt ist dem Band eine DVD mit einem Filmporträt des italienischen Fernsehens.

In knappen, erstaunlich nüchternen Worten erzählt Bejarano in ihren Aufzeichnungen von einer noch unbeschwerten Kindheit im Saarland und wie die beginnenden antisemitischen Angriffe die Familie auseinanderreißen. Nachdem sie in einem Blumenladen Zwangsarbeit leisten musste, wird sie als 19-Jährige ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Die Selektionen überlebt sie nur, weil sie im Mädchenorchester Akkordeon spielen kann. Für die Häftlinge auf dem Weg in die Gaskammern muss sie Märsche spielen. Schließlich wird Bejarano ins Frauenlager Ravensbrück verlegt, weil sie eine nichtjüdische Großmutter vorweisen kann. Auf einem Todesmarsch kann sie fliehen.

Eindringlich erzählt Bejarano vom Jubel über die Befreiung, von der hoffnungsvollen Emigration nach Palästina und der Entscheidung, Israel aus Enttäuschung über dessen aggressive Okkupationspolitik wieder zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren. Und schließlich von ihrer langsamen Rückkehr zum politischen und künstlerischen Leben.

Es ist eine außergewöhnliche Perspektive, die Bejarano auf die Ereignisse wirft: Auch die Aufzeichnung des Schrecklichen wird zum Ausdruck ihres Lebenswillens. Darin klingt eine unerschütterlich in die Zukunft orientierte Form der Erinnerungsarbeit an. Eine wichtige Rolle spielt dabei immer die Musik, die zu einer Form des Widerstandes gegen die erlittenen Ungeheuerlichkeiten und zur Waffe im Kampf gegen alte und neue Nazis wird.

Dass die Herausgeberin Antonella Romero Esther Bejarano ausdrücklich nicht als „Denkmal“ zeigt, sondern als politisch engagierte Künstlerin, macht den Band zu einem wichtigen Dokument eines außergewöhnlichen Lebenswegs. Zugleich ist das Buch das gelungene weil vielschichtige Porträt einer außergewöhnlichen Frau.ROBERT MATTHIES

„Esther Bejarano. Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts“, hrsg. von Antonella Romero, Laika, 208 S., 21 Euro

Buchvorstellung am 24. 10., 19.30 Uhr, Patriotische Gesellschaft Hamburg, Trostbrücke 4

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