: Viel Raum für Ideen
AM START Unternehmensgründungen in der Hauptstadt punkten mit unkonventioneller Vielfalt und internationalen Strukturen. Zudem fließt nun auch Geld in die Stadt
■ Die Deutschen Gründer- und Unternehmertage finden heute und morgen im Hangar 2 des Flughafen Tempelhof statt.
■ Experten und Berater von Banken, Wirtschaftsverbänden, Kammern sowie Unternehmer informieren die Besucher über Relevantes bei einem geplanten oder kürzlich erfolgten Start in die Selbstständigkeit.
■ Gründer, die sich bereits etabliert haben, können sich zu Themen wie Marketing, Vertrieb, Recht oder Personal informieren.
■ Ein Tagesticket kostet 15 Euro (ermäßigt 5 Euro), ein Zweitagesticket 25 Euro.
VON MIRKO HEINEMANN
Direkt neben den glanzsanierten Hackeschen Höfen liegt ein kleineres Labyrinth, das aus Berliner Hinterhöfen besteht. Nicht ganz so verzweigt, dafür mit dem morbiden Charme der Vorwendezeit präsentiert sich Haus Schwarzenberg den vielen Touristen, die sich dorthin vorwagen. So manche kostet das Betreten der abbröckelnden Gemäuer, an denen urzeitliche Monster aus Blech kleben, sichtlich Überwindung.
Für die quirlige Frau mit dem Lockenkopf, die sich gut gelaunt zwischen den Besuchern hindurchdrängt, ist dieser Ort eine willkommene Nische. Melinda Stokes, genannt Lindy, betreibt im zweiten Hinterhof das Bekleidungsgeschäft „stokx“, eine Mischung aus Shop und Atelier. „Please say hallo when you come in“, fordert ein Schild Besucher auf. „Ich bin ja nicht Hertie oder Kaufhof“, erklärt Melinda Stokes. „Ich bin ein Mensch und möchte wahrgenommen werden.“
Melinda Stokes ist keine Gründerin, wie sie die Risikokapitalgeber lieben. Sie erfüllt nicht das Klischee der Start-up-Unternehmerin, die mit einer guten, vielleicht kopierten Idee frisch von der Uni weg zum Gipfelsturm ansetzt. Auch ist für sie der Gewinn nicht der treibende Faktor. Genau deshalb weist ihre Geschichte typische Merkmale für den unkonventionellen Typus des Berliner Gründers auf.
Melinda Stokes kam Anfang der 1990er Jahre nach Berlin, eine studierte Modedesignerin aus Australien auf Europa-Trip. Von Brisbane über London ging es ins graue Nachwende-Berlin, damals Tummelplatz für Kreative. „Space“, das war es. Räume, Brachflächen, Ruinen, die darauf warteten, bespielt zu werden, Projektionsfläche für Träume von Menschen, die im Aufbruch waren. Hier wollte Melinda Stokes leben.
Ihr Unternehmen ist organisch gewachsen. Sie startete als freie Mitarbeiterin für große Modefirmen, die bei ihr Muster in Auftrag gaben. Ende der 90er gründete sie ihr eigenes Modelabel, 2006 eröffnete sie den dazugehörigen Laden. Erst danach benötigte sie ihre erste Anschubfinanzierung. Da hatte sie diesen Stoff entdeckt, eine perfekte Mischung aus Baumwolle und dem extrem widerstandsfähigen Cordura. 300 Meter war die Mindestabnahmemenge – pro Farbe. Mit einem günstigen Gründerkredit von 25.000 Euro konnte Melinda Stokes eine neue Kollektion schaffen, die nicht nur individuell geschnitten ist, sondern auch noch aus äußerst langlebigem Material besteht.
Keine Gründergeschichte ist wie die andere, zumal in Berlin. Nirgendwo sonst in Deutschland sind die Bedingungen für Gründer so gut, nirgendwo sonst ist der Unternehmungsgeist so deutlich zu spüren. In ihrem jüngsten Gutachten heben die Regierungsberater der „Expertenkommission Forschung und Innovation“ hervor, dass Risikokapitalgeber vor allem in der Hauptstadt nach Erfolg versprechenden Geschäftsideen fahnden. Die Investitionen von Wagniskapitalgebern in Berlin hätten sich seit 2009 verdoppelt. 2011 seien allein 116,8 Millionen Euro in junge Berliner Unternehmen investiert worden. „Keine andere Metropole konnte so viel Kapital für Frühphaseninvestitionen anlocken“, so die Berater.
Berlin: die wichtigste Gründermetropole Deutschlands. Für die Deutschen Gründer- und Unternehmertage (deGUT), die an diesem Wochenende hier stattfinden, sind solche Aussagen eine Steilvorlage: Dann tauschen sich im Hangar 2 des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof etwa 6.000 Gründer, Investoren, Berater aus. Dort werden auch die 16 deutschen GründerChampions gekürt, die beste Geschäftsidee aus jedem Bundesland sowie Bundessieger in drei Kategorien.
Wie vielfältig und wie international die Gründerszene in Berlin mittlerweile ist, veranschaulicht die Auswahl der Repräsentanten, die als Aushängeschilder und Ansprechpartner zur Verfügung stehen sollen. Die Kulturanthropologin Joana Breidenbach mit ihrem Berliner Unternehmen Think Tank betterplace lab ist genauso vertreten wie impulse-Herausgeber Nikolaus Förster, der das Magazin Gruner + Jahr abkaufte. Außerdem: Conrad Fritzsch und Stephanie Renner mit tape.tv, dem Berliner Musikfernsehen im Internet. Christian Wolf, der mit seinem Start-up „Wirkaufens“ gebrauchte Elektronikartikel ankauft, aufbereitet und sie mit Gewinn wieder verkauft. Bülent Uzuner mit seinem IT-Unternehmen BTC AG und die Britin Claire Davidson, die „Urbanara“ gründete, einen Direktvertrieb für edle Wohnaccessoires. Davidson hatte dem Fachmedium gründerszene.de erklärt, sie habe sich für Berlin als Standort entschieden, weil es international geprägt sei. Für die globale Expansion des Unternehmens sei dies entscheidend.
Als Modemacherin Melinda Stokes in den 1990er Jahren nach Berlin kam, war das noch völlig anders. Heute lebt auch sie von den internationalen Besucherströmen. Und trägt sich mit der Idee, ihr Unternehmen zu globalisieren. Mit einem entscheidenden Unterschied zu anderen Playern in der Textilindustrie: Melinda Stokes kauft ihren Stoff nur in Europa, vorwiegend in Deutschland. Und sie lässt regional produzieren, viele der ausgestellten Stücke stammen aus Berliner Nähereien. Ihre Idee von Globalisierung geht so: Kleidung soll dort verkauft werden, wo sie auch produziert wird. Nicht die Textilien reisen um die Welt – auf der Suche nach dem günstigsten Herstellungspreis – sondern die Entwürfe, und zwar digital über das Internet. „Local-global“ nennt sie dieses Netzwerk von Designern. Kontakte nach Australien und den USA hat sie bereits aufgenommen.