: Dickbäuchige Ballerina
Er sitzt dem Teufel im Nacken: Eduardo de Paiva Souza zählt zu den Meistern des Puppenspiels. Auch sein neues Solostück „Morningstar“ ist perfektes Körpertheater
Ein Hinterteil hängt an einem Fleischerhaken über der Bühne. Anstößig, prall und rosarot. Es ist der Hintern des Teufels. Der niederländisch-brasilianische Puppenspieler mit dem wohlklingenden Namen Eduardo de Paiva Souza hat seinen eigenen Satan geschaffen. Für sein zweites Soloprojekt hat Paiva die Puppe selbst gebaut. Auf der Bühne der Schaubude wird er die menschengroße Schaumstofffigur des Leibhaftigen neu gebären. Er wird ihr das Augenlicht schenken, eine Stimme geben, ihr seine Beine leihen und sie schließlich zum Tanzen bringen. Graziös und majestätisch.
Als universelle Themen gehören Leben und Tod zu den meistverarbeiteten Stoffen des modernen Figurentheaters. Schließlich besteht die Kunst des Puppenspielers ganz konkret darin, der Puppe nicht nur Leben einzuhauchen, wie es so abgegriffen heißt, sondern ihr auch Energie, Intelligenz und einen eigenen Charakter zu geben. Paiva, der Meisterschüler von Neville Tranter, dem überragenden niederländischen Puppenspieler, beherrscht diese Kunst mit einer fast beängstigenden Perfektion. Wenn er dem Satan seine Beine leiht, dann verschmelzen Puppe und Mensch vor den Augen der Zuschauer. Es ist bald fraglich, wer hier wen lenkt, und man bekommt Mitleid mit dem Satan, dem ein anderer im Nacken sitzt.
Paiva hat unter anderem japanischen Butohtanz studiert, ein meditatives Tanztheater ohne feste Formen und Schritte. Das enorme Körperbewusstsein des Tänzers scheint sich im Spiel auf die Puppe zu übertragen. Die Motorik der hässlichen Teufelsfigur entwickelt im Laufe des Stücks Bewegungen von einer solch fragilen Eleganz, dass das fleischfarbene, dickbäuchige Ungetüm zur Ballerina mutiert.
Waren die Tanzeinlagen in Paivas erstem Soloprojekt „Angel“ noch eher Beigabe, wird der Körper und sein Potenzial in „Morningstar“ zum Thema erhoben. Während Tranter sich zumeist als Diener seiner menschenähnlichen Puppen begreift und hinter ihnen beinahe unsichtbar wird, stellt Paiva sich gleichberechtigt neben seine textilen Spielpartner und kämpft, tanzt und schläft mit ihnen.
In „Angel“ freundete er sich als betrunkener Landstreicher mit dem kleinen steinernen Engel Gregory auf einem Friedhof an. Nicht nur, dass das kindliche Schaumstoffwesen im Laufe des Stücks ein beunruhigendes Verhalten zeigte. Am Ende schien die kleine Puppe den um ein vielfaches größeren Paiva gar an den Haaren über die Bühne zu schleifen: die perfekte Manipulation. Gregory wurde zwar als Engel demontiert, aber er blieb die Figur, die er von Anfang an war. Die Teufelspuppe in „Morningstar“ ist derart flexibel und formbar, dass sie in den Händen Paivas zu wachsen scheint und wieder schrumpft. In fließendem Übergang wird das Monster zum Kind oder zur Diva.
Paiva versteht es, das unstete Material so unter Spannung zu halten, dass man meinen könnte, es müsse wirklich lebendig sein. In diesem Stoffgebilde vereint sich ein ganzes Ensemble. Vor allem knüpft „Morningstar“ aber auch an den Frankenstein-Mythos an. Es ist die Geschichte vom Schüler, der sich von seinem Meister trennt und eigene Wege geht – oder tanzt.
LEA STREISAND
Heute und morgen, 20 Uhr, Schaubude Puppentheater, Greifswalder Straße81–84