: Unordnung mit vielen Stimmen
Von Alterskarrieren und glückender Realitätskonzentration: Den Regisseuren Jürgen Gosch und Dimiter Gotscheff gehört die Gunst der Stunde. Mit insgesamt drei Inszenierungen sind sie beim heute beginnenden Berliner Theatertreffen gut vertreten
von EVA BEHRENDT
Alterskarriere ist kein schönes Wort. Es klingt nach schwerer Geburt und letztem Versuch zugleich. Wahrscheinlich trifft es in einer Zeit, in der man mit Mitte vierzig langsam erwachsen wird, auch eher auf Menschen um die achtzig zu. Trotzdem ist man versucht, die Regisseure Jürgen Gosch und Dimiter Gotscheff, die beide im Kriegsjahr 1943 geboren und im sozialistischen Osten aufgewachsen sind, genau mit diesem Etikett zu belegen.
Sie gelten nämlich als Regisseure der Stunde. Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass die beiden am oberen Ende der zweiten Theaterliga dümpelten. Während in den Neunzigerjahren das Poptheater noch einmal neu erfunden und mit postdramatischen Formen experimentiert wurde, gehörten Gosch und Gotscheff zu denen, die zwischen Berlin und Bochum für das Graubrot des gehobenen Stadttheaters zuständig waren. Gotscheffs von Brecht und Müller inspirierte Ost-Avantgarde, die um 1990 noch exotisch wirkte, erregte wenig Aufsehen, und Jürgen Gosch, der Anfang der Achtziger nach seiner Ankunft im Westen am Schauspiel Köln erfolgreich gestartet war, brauchte lange, um sich von einer gescheiterten Intendanz an der Berliner Schaubühne zu erholen.
Doch seit drei, vier Jahren ist alles anders. Vor allem Jürgen Gosch gelingt eine Arbeit nach der anderen. Dreimal in Folge wurde er zum Berliner Theatertreffen geladen, dieses Jahr sogar mit zwei Produktionen: Tschechows „Drei Schwestern“ vom Schauspiel Hannover und „Macbeth“ vom Düsseldorfer Schauspielhaus. Die Shakespeare-Inszenierung eröffnet heute Abend das Festival. Auch Gotscheffs „Iwanow“ von der Berliner Volksbühne hat die Jury des Theatertreffens ausgewählt, während Hausherr Frank Castorf, der den Bulgaren vor drei Jahren an das kriselnde Haus am Rosa-Luxemburg-Platz holte, leer ausging.
Doch das Erstaunliche ist gar nicht, dass die Generationsgenossen Gotscheff und Gosch noch einmal und etwa gleichzeitig in eine glückliche Schaffensphase geraten sind. Verblüffend ist vielmehr, dass beide Regisseure mit einem auf den ersten Blick beinah altmodischen, wenn nicht gar konservativen Theater so erfolgreich sind. Sie verzichten nämlich auf Video, dekonstruieren keine Texte und ersetzen die Darsteller nicht durch Laien. Sie verwenden literarische Texte und setzen radikal auf ihre Schauspieler – und erzählen mit ihnen auf ganz verschiedene Weise zeitgenössische Geschichten.
Alterskarriere? „Blödsinn!“ Dimiter Gotscheff glaubt nicht an plötzliche Wendungen. Schon gar nicht an solche zum Guten. Wenn er in der Kantine der Berliner Volksbühne allein und zerfurcht übers Bier gebeugt sitzt, könnte man ihn für einen melancholischen Trinker halten. Doch seine Augen leuchten auf, sobald er von seinen Schauspielern spricht, mit denen er seit Jahren in fast jeder Inszenierung zusammenarbeitet. Neben seiner Lebensgefährtin Almut Zilcher zählen vor allem sein Landsmann Samuel Finzi und Wolfram Koch zu dieser Theaterwahlfamilie. Mit ihr hat Gotscheff seit Mitte der Achtziger auch eine beachtliche Tschechow-Strecke zurückgelegt, mit Stationen in Köln, Düsseldorf, Hamburg und Frankfurt. „Ich habe diese Texte 20 Jahre mit mir herumgetragen, und auch die Schauspieler brauchten Zeit, um sie für sich zu entdecken“, sagt er. „Jetzt leben wir in einer Welt, die ohne Illusionen, ohne Utopie ist. Deshalb passt Tschechow heute so gut.“
Das Schöne an Gotscheffs „Iwanow“ aber ist, dass die Inszenierung nicht nur den Verlust der großen Utopien betrauert. Mindestens ebenso sehr feiert sie die spielerische Freiheit, die dadurch entsteht. Schon die atmosphärischen Nebelschwaden, die die Bühnenbildnerin Kathrin Brack über die leere Bühne ziehen lässt, liefern einen ironischen Kommentar zur Geistesverfassung des depressiven Helden. Ihn macht Samuel Finzi mit Vollbart, Hipster-T-Shirt und erloschenen Augen zum leeren Zentrum der Inszenierung. Es zieht alle an, die noch etwas fühlen wollen: seine kranke Frau Anna (Almut Zilcher), den verzweifelt hilfsbereiten Freund Lebedev (Wolfram Koch), dessen liebessüchtige Tochter Sascha (Birgit Minichmayer), ja selbst Milan Peschels zynischen Verwalter Borkin.
Gotscheff liebt seine Schauspieler, und es nervt ihn, dass diese Liebe in Deutschland nicht selbstverständlich ist. Wenn er seine Arbeitsweise beschreibt, dreht sich alles um sie: „Ich versuche, eine intensive, aber freie Atmosphäre zu schaffen, in der die Schauspieler autonom sind, Zeit und Raum für sich haben, eine Reise machen können. Ich habe kein Konzept, ich kommandiere nicht von unten. Ich versuche einfach, ein guter Partner zu sein. Heiner Müller hat mal zu mir gesagt: ‚Der Regisseur ist ein Penner, der von den Almosen der Schauspieler lebt.‘ “
Von vielen Marlboros und Getränken ist Gotscheffs Stimme tief und geschmeidig geworden. „Ich habe schon einen ziemlich finsteren Blick auf die Welt.“ Was vielleicht auch an seiner Lektüre liegt. Der Schweizer Globalisierungskritiker Jean Ziegler bestärkt Gotscheff darin, „diese Gesellschaft hier und heute genauer zu sezieren“. Manchmal klappt es, wie vor drei Jahren bei Bernard-Marie Koltès' „Kampf des Negers und der Hunde“, den Gotscheff an der Berliner Volksbühne im Konfettidauerregen inszenierte und vom Dritte-Welt-Existenzialismus entschlackte. Oder bei Ben Jonsons elisabethanischem „Volpone“, den Gotscheff erst kürzlich am Deutschen Theater in eine düstere Farce auf den Kapitalismus verwandelt hat.
Manchmal klappt es nicht: Seine konsumkritische Adaption von Marco Ferreris Skandalfilms „Das große Fressen“ (1973) ist gerade erst an der Volksbühne in Richtung Kindergeburtstag verläppert.
Auch Jürgen Gosch ist vor allem ein Schauspielerregisseur. Allerdings besteht Anlass zu der Vermutung, dass er es heute anders ist als noch vor vier oder fünf Jahren. Seine Arbeiten sind anarchischer, komischer und zugleich konzentrierter geworden.
Unter seine Regie liefern die Schauspieler sich, egal ob in Berlin, Düsseldorf oder Hannover, regelrechte Schlachten auf der Bühne – und das, ohne aus ihren Rollen zu fallen. Die Schauspielerin Wiebke Puls, die am Hamburger Schauspielhaus öfters mit Gosch gearbeitet hat, vermutet, dass Gosch seine Lust an der Improvisation zufällig während der Proben zu einem Stück von Roland Schimmelpfennig entdeckt hat: „Da haben wir zum Spaß angefangen, Tiere zu spielen, haben gemäht und gemuht und gegrunzt. Diesen Moment hat Gosch geliebt, auch die Albernheit darin.“
Gosch wirkt alles andere als albern oder verspielt, vielmehr äußerst konzentriert. Er glaubt, dass sich etwas in seiner Arbeit geändert hat: „Es gab eine Phase, in der ich mit meinen Inszenierungen, etwa in den Neunzigerjahren hier am Deutschen Theater, sehr unglücklich war. Wie das so ist manchmal im Leben. Manchmal schämt man sich für das, was man macht, und kann es merkwürdigerweise nicht so schnell ändern.“ Geändert hat sich dann doch etwas: „Die Voraussetzung für unsere Beschäftigung ist ja, dass man es zusammen macht. Das geht wiederum nur, wenn ich mich ganz gelassen fühle, diesen Zustand der Freiheit der anderen zu ertragen. Und wenn die anderen diese Freiheit nutzen, wenn wir ein bohrendes Interesse aufbringen.“ Außerdem sei er misstrauischer gegen sich selbst geworden. „Jedem Zweifel muss man nachgehen. Man darf nie hoffen, dass es trotzdem ganz gut ist.“ Dann klingelt Goschs Handy mit einem rütlischulmäßigen Klingelton. „Al Qaida“, lächelt der Regisseur höflich entschuldigend und schaltet das Telefon aus. Man ahnt, dass es solche Details sind, die ihm auf der Bühne diebische Freude bereiten.
Gosch erzählt, dass ihn nicht mehr so sehr der Plot interessiert, sondern „einfach zuzugucken, wie etwas vergeht. Oder sich ereignet. Wie die vergehende Zeit etwas anrichtet mit den Leuten, ohne dass es die dramatische Schürzung eines Knotens braucht.“ Auch seine jüngste Arbeit, „Unten“ (nach Gorkis „Nachtasyl“) am Hamburger Schauspielhaus, lenkt die Aufmerksamkeit nicht allein auf die Konflikte der Obdachlosen und Alkoholiker, die 17 Schauspieler virtuos und nahezu naturalistisch darstellen. Sondern auch auf die scheinbar zufälligen Muster ihrer Verteilung im Raum und auf die Zeit, die in wechselnder Geschwindigkeit vergeht. Diese „polyphone Unordnung“, wie ein Kritiker Goschs Ästhetik einmal sehr treffend genannt hat, kann selbst in Lärm und Hektik die Kraft einer Meditation erreichen. Etwa wenn die Schauspieler sämtlich Schlafsäcke, Tüten und Requisiten gleichzeitig in die hintere linke Ecke der großen weißen Scheune pfeffern, die Johannes Schütz auf die Schauspielhausbühne gestellt hat. In diesem Moment fallen Choreografie und Chaos zusammen: „So sieht mein ideales Theater aus: Auf einmal ist alles zugleich und von selber da.“
Damit ließe sich eine letzte Gemeinsamkeit des Schaffensglücks von Gosch und Gotscheff beschreiben, die gewiss nicht konservativ ist, nämlich die Fähigkeit, Realität zu konzentrieren.