: Das lästige Summen der Fliege
PRIVATUTOPIE Der Dokumentarfilm über das Künstlerpaar Emilia und Ilya Kabakov „Fliegen und Engel“ lässt den Zuschauer zum Sowjetbürger mutieren
Der Assistent befestigt eine alte, etwas angeschlagene Emailletasse auf der in grüner Ölfarbe gestrichenen Holztafel, wobei ihn Ilya Kabakov konzentriert beobachtet. „Wessen Tasse ist das? In der Gemeinschaftsküche ist das ein Problem. Jemand hat sie vergessen und nun muss man herausfinden, wem sie gehört. Das ist ein schwerwiegendes, metaphysisches Problem“, murmelt der Patriarch des Moskauer Konzeptualismus vor sich hin – und mit diesen Worten stecken wir schon mittendrin, in der totalen Installation, die sein Markenzeichen ist – obwohl wir mit den beiden Dokumentarfilmern Kerstin Stutterheim und Niels Bolbrinker zunächst nur ihrer Verfertigung zuschauen und nur Bruchteile dessen sehen, was sie später im Zusammenwirkung von Innenarchitektur, Bildern, Texten, Gegenständen und Geräuschen ausmacht. Ja, schon jetzt empfinden wir das dringende Bedürfnis zu wissen, wessen Tasse das ist. In Nullkommanichts sind wir zum Sowjetbürger mutiert.
Deshalb sind die Moskauer U-Bahn-Fahrten und die Streifzüge durch die Straßen und Hinterhöfe der Stadt eigentlich unnötig, mit denen die Filmemacher in ihrem Film „Fliegen und Engel“ die Erinnerung an die Atmosphäre wachrufen möchten, in der sich Kabakovs Kunst entwickelte. Kabakovs Kunst tut das selbst viel besser: Der wirkliche Höhepunkt des Filmporträts ist denn auch der Moment, in dem der Künstler eine Mappe von Zeichnungen aufblättert, die davon handeln, dass alle Menschen fliegen; morgens, noch ist „die Luft frisch und durchsichtig“, nur wenige und auch etwas verschlafen, wie der Künstler erklärt, „mittags fliegen dann alle auf, wenn auch nur für kurze Zeit“. In diesem Moment katapultiert Kabakov mit seiner papierleichten, verspielten Privatutopie die Menschen aus der bösen, realisierten Gesellschaftsutopie seiner Gemeinschaftsküchen-Installation heraus und macht sie zu Engeln, Fliegern statt Fliegen.
Ein Flieger sorgte für seinen ersten Ruhm in Kunstkreisen, als er in seinem Moskauer Atelier Anfang der 1980er-Jahre seine Totalinstallation entwickelte. Der „Mann, der in den Kosmos flog“ riss die Nachbarn durch den unerhörten Knall aus dem Schlaf, der entstand, als ihn sein selbstgebautes Katapult durch die Wohnungsdecke hindurch in den Weltraum schoss. Die traurige Komik der erbärmlichen Flugmaschine und der zerfetzten Decke, wie sie im Film zu sehen sind, ist nicht weniger herzzerreißend als der sentimentale Stil seiner Kinderbuchillustrationen, durch die Kabakov zu diesem Zeitpunkt längst schon berühmt war.
Das Talent des 1933 im ukrainischen Dnjepropetrowsk geborenen Malers, Zeichners, Erzählers und Installationskünstlers wurde schon während des Kriegs erkannt. Um seine Förderung zu sichern, übersiedelte seine ihn allein erziehende, jüdische Mutter in die Nähe von Moskau, wo sie schließlich im stillgelegten Abort seines Kunstinternats Unterkunft fand. Der verzweifelte Kitsch seiner Wohnungsinstallation „Die Toilette“ auf der documenta 9, 1992, bezieht sich auf diesen biografischen Umstand. Wie auch die Fliege, der eine wesentliche Rolle in seinem künstlerischen Werk zukommt.
Die Fliege, so erläutert der Künstler, ist einerseits eng mit dem Müll verbunden, dem tatsächlichen Müll, dem Sprachmüll und den ideologischen Müll der Sowjetzeit; andererseits ist sie das Symbol für die alles überwachende, stets und überall anwesende Staatsmacht. Wie die Aussagen seiner alten Jugendliebe und heutigen Frau Emilia, mit der er nun ein Künstlerpaar bildet, seitdem er sie, die schon früher emigriert war, Anfang der 1990er-Jahre in New York wiedertraf und heiratete, sind seine Selbstauskünfte zweifellos die große Stärke des Films. Das lästige Summen der Fliege erinnere die Leute daran, bloß nicht aus der ihnen zugewiesenen Rolle zu fallen, sagt er. Und weil seine Rolle die des Malers ist, muss er sie immer wieder zu Papier bringen, wo sie nicht einfach verscheucht werden kann. BRIGITTE WERNEBURG
■ „Fliegen und Engel“. Buch/Regie: Kerstin Stutterheim/Niels Bolbrinker. 93 Min., D 2009. Ab 13. Mai in den Hackeschen Höfen, www.hoefekino.de